Sie hielten Mahnwachen ab. Sie dokumentierten die Gewalt durch den Staatsapparat und boten Oppositionellen Zuflucht. Die Mitglieder der evangelischen Gethsemane-Kirche in Berlin bildeten einen Kern des Widerstands gegen das DDR-Regime.
Nach dem Mauerfall wurde es ruhig um Gethsemane. Die Kirche wird heute vor allem von Familien aus Prenzlauer-Berg aufgesucht.
Nun aber wird die Gemeinde abermals politisiert: Denn eines ihrer Mitglieder, der Menschenrechtstrainer Peter Steudtner, sitzt seit Anfang Juli in der Türkei in Untersuchungshaft.
Steudtner hatte einen Workshop türkischer Menschenrechtler in Istanbul begleitet. Er wies die Gruppe in IT-Sicherheit und den gewaltfreien Umgang mit Konflikten ein, als Anti-Terror-Polizisten das Tagungshotel stürmten und die Seminarteilnehmer festsetzten.
Die türkischen Behörden werfen Steudtner und seinen Kollegen vor, Terrorismus zu unterstützen. Präsident Recep Tayyip Erdogan brachte die Menschenrechtler mit dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 in Verbindung.
Der Fall Steudtner markiert einen Wendepunkt in den deutsch-türkischen Beziehungen.
Steudtners Verhaftung führte zu einer Änderung der deutschen Türkei-Politik
Lange Zeit hoffte die Bundesregierung, sich mit der Türkei verständigen zu können. Erdogan beschimpfte Bundespolitiker als „Nazis“ und „Terrorhelfer“, lies die deutschen Journalisten Deniz Yücel und Mesale Tolu verhaften, verweigerte Bundestagsabgeordneten den Besuch deutscher Soldaten auf dem Militärstützpunkt in Incirlik. Die Bundesregierung begegnete den Provokationen mit demonstrativer Gelassenheit. Bloß nicht die Nerven verlieren, lautete die Vorgabe aus dem Kanzleramt.
Erst die Verhaftung von Steudtner führte zu einer Neuausrichtung der deutschen Türkei-Politik. Außenminister Sigmar Gabriel verschärfte die Reisehinweise für Türkei-Urlauber und kündigte an, Bürgschaften für deutsche Unternehmen in der Türkei zu überprüfen.
Erdogan hat sich von den Drohungen bislang nicht beeindrucken lassen. Er setzt seine Provokationen gegen Deutschland weiter fort.Im August wurde der deutsche Schriftsteller Dogan Akhanli im Urlaub in Spanien auf Drängen der Türkei vorübergehend festgenommen.
„Das Risiko schien tragbar“
Steudtner, so scheint es, ist beinahe durch Zufall zu Erdogans Geisel geworden. Er hat, anders als Yücel oder Tolu, weder einen familiären noch beruflichen Bezug zur Türkei. Er lebt mit seiner Partnerin, Magdalena Freudenschuss, und seinen zwei kleinen Kindern in Berlin. Steudtner hat vor allem in afrikanischen Ländern gearbeitet. An dem Workshop in Istanbul hat er auf Einladung von Amnesty International teilgenommen.
„Niemand hat mit Peters Festnahme rechnen können“, sagt Freudenschuss. Es habe im Vorfeld der Veranstaltung eine Risikoanalyse gegeben, Rücksprachen mit den Organisatoren. „Das Risiko schien tragbar.“
Die türkischen Behörden haben Steudtner inzwischen in das Hochsicherheitsgefängnis in Silivri, bei Istanbul verlegt, wo auch Deniz Yücel festgehalten wird. Steudtner teilt sich eine Zelle mit einem jungen Türken, der als mutmaßlicher Putschist einsitzt. Er darf einmal in der Woche mit seinem Anwalt sprechen und bekommt unregelmäßig Besuch von deutschen Diplomaten. Mit Freudenschuss, seiner Partnerin, hat er seit seiner Verhaftung erst ein einziges Mal für 30 Minuten telefonieren dürfen.
Niemand weiß, wie lange Steudtner und seine Kollegen im Gefängnis bleiben werden. In der Türkei kann sich die Untersuchungshaft über fünf Jahre erstrecken. „Es ist nicht klar, wie es nun weitergeht. Es gibt keinen Zeitplan. Die Ungewissheit bedrückt mich, sie macht mich traurig“, sagt Freudenschuss.
In der Gethsemane-Kirche in Berlin halten die Mitglieder nun jeden Tag um 18 Uhr eine Andacht für Steudtner ab. Sie zünden Kerzen an, sie beten. Sie haben ein Plakat aufgehängt, das sich an den Protesten von 1989 orientiert: „Freiheit für die zu Unrecht Inhaftierten“, steht darauf.
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