Nach heftigen Protesten

Istanbul (dpa) – Nach wütenden Protesten und einer Intervention von Staatschef Recep Tayyip Erdogan hat die türkische Regierungspartei AKP einen Gesetzesentwurf zu Sexualstraftaten an Minderjährigen zurückgezogen.

Der Entwurf sah vor, dass die Strafe ausgesetzt werden kann, wenn der Täter sein Opfer heiratet. Ministerpräsident und AKP-Chef Binali Yildirim kündigte am Dienstag an, der Entwurf werde an die zuständige Parlamentskommission zurückverwiesen und zusammen mit der Opposition und anderen gesellschaftlichen Gruppen «weiterentwickelt».

Justizminister Bekir Bozdag sagte nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu, sollte seine Partei einen Konsens mit der Opposition finden, könnte das Gesetz erneut auf die Tagesordnung kommen. Ansonsten habe sich das Thema erledigt. Zuvor hatte sich Präsident Erdogan persönlich in die Debatte eingeschaltet und gesagt, für das Vorhaben sei ein «breiter Konsens» notwendig.

Kritiker hatten bemängelt, das Gesetz hätte im Falle einer Hochzeit zu Straffreiheit bei sexuellem Missbrauch von Minderjährigen führen können. Voraussetzung wäre gewesen, dass der sexuelle Kontakt ohne Gewalt oder Drohung und nicht gegen den Willen des oder der Minderjährigen zustande kam. Das Gesetz hätte sich nur auf Fälle vor dem 16. November bezogen, deren Zahl die Regierung mit 3000 angab.

Die Massenentlassungen von Staatsbediensteten und die Schließung unabhängiger Organisationen in der Türkei gingen trotz wachsender Kritik aus der EU weiter. Mit einem am Dienstag im Amtsanzeiger veröffentlichten Notstandsdekret Erdogans wurden 15 396 Staatsbedienstete entlassen. Bei ihnen handelt es sich um 9977 Angehörige der Sicherheitskräfte und 5419 zivile Mitarbeiter von Ministerien und Behörden. Grund sind stets angeblichen Verbindungen zu Terrororganisationen.

Mit dem Dekret wurde auch 375 Vereine geschlossenen, darunter Menschenrechtsgruppen. Die Büros der meisten dieser Vereine waren bereits am vorvergangenen Freitag versiegelt worden. Sieben Regionalzeitungen, ein regionales Magazin und ein Lokalradiosender müssen ihre Arbeit einstellen. Die von den Ministerien und Behörden entlassenen Staatsbediensteten werden in Anhängen zu dem neuen Dekret erneut mit ihrem Namen und Dienstort benannt. Diese Praxis ist hoch umstritten, da die Betroffenen damit öffentlich an den Pranger gestellt werden, ohne von einem Gericht verurteilt worden zu sein.

Erdogan kündigte an, weiter gnadenlos gegen die Gülen-Bewegung vorzugehen. «Wir wissen, dass der Staat von dieser Verräterbande nicht vollkommen gesäubert wurde», sagte er in Ankara. «Der Kampf der Türkei gegen den Terror wird bis zum letzten Terroristen, bis der letzte Terrorist eliminiert wird, fortgesetzt. Dieser Kampf wird auch weitergehen, wenn der Ausnahmezustand zu Ende ist.» Erdogan macht den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen für den Putschversuch von Mitte Juli verantwortlich.

Im Europäischen Parlament formiert sich eine breite Mehrheit für das Einfrieren der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei. Gleichzeitig warnten bei der Plenardebatte einige Abgeordnete vor einem vollständigen Abbruch des Dialogs. «Ein weiter so kann es nicht geben», sagte der Abgeordnete der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber (CSU), in Straßburg. Seine Fraktion, die größte Gruppe im EU-Parlament, unterstütze deswegen die Forderung, die Beitrittsgespräche zunächst einzufrieren – «nicht abzubrechen», betonte er dabei.

Am Donnerstag wollen die Abgeordneten über eine entsprechende Resolution abstimmen. An der genauen Formulierung wird noch gefeilt. Hintergrund ist die Verhaftungswelle in der Türkei nach dem Putschversuch Mitte Juli. Nach Medienangaben sitzen dort derzeit mehr als 36 000 Menschen in Untersuchungshaft, denen Verbindungen zur Bewegung um den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen vorgeworfen werden. Die türkische Führung macht diese für den Putschversuch verantwortlich.

Wirklich Druck ausüben könnte die EU auf die Türkei nach Ansicht der Grünen-Abgeordneten Ska Keller allerdings nur, wenn sie die Verhandlungen über eine Erweiterung der Zollunion sowie den Flüchtlingspakt infrage stellte. An diesen Abkommen sei die Türkei nämlich interessiert.

Bindend wäre eine Aufforderung des Parlaments, die Beitrittsgespräche auf Eis zu legen, nicht. Die seit 2005 laufenden Verhandlungen führt nämlich die EU-Kommission. Theoretisch müsste die Brüsseler Behörde bei einem «schwerwiegenden und anhaltenden Verstoß» der Türkei gegen europäische Grundwerte aber einen zumindest vorübergehenden Stopp empfehlen. Am Ende liegt die Entscheidung bei den Mitgliedstaaten.

Die EU-Außenbeauftragte und Vize-Präsidentin der EU-Kommission Federica Mogherini warb während der Debatte jedoch dafür, die Gesprächskanäle offen zu halten. Dies sei der beste Weg, die Demokratie in der Türkei zu stärken. «Wir brauchen einen regelmäßigen, gegenseitigen Dialog.»

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