„Mehr Fortschritt wagen“ – so haben die Ampel-Parteien ihrem Koalitionsvertrag überschrieben. Doch was heißt das im Einzelnen? Ein Überblick über die wichtigsten Änderungen. ZEIT ONLINE wird die einzelnen Themenfelder nach und nach ergänzen
Corona-Bekämpfung
In der Präambel des Koalitionsvertrags sprechen die Ampel-Parteien die dramatische Corona-Lage an. „Die Pandemie zu besiegen“ sei die „vordringlichste Aufgabe“, heißt es dort. Die Ampel will das Krisenmanagement der Bundesregierung neu ordnen und dazu „unverzüglich“ einen gemeinsamen Krisenstab der Bundesregierung einsetzen, um die gesamtstaatliche Bekämpfung der Pandemie besser zu koordinieren. Außerdem wird ein interdisziplinär besetzter wissenschaftlicher Pandemierat beim Bundesministerium für Gesundheit geschaffen.
Maßnahmen für den Klimaschutz
Neue Geschäftsmodelle und Technologien sollten laut den Ampel-Parteien „klimaneutralen Wohlstand“ sichern und Deutschland „auf den 1,5-Grad-Pfad bringen“, die im Pariser Klimaschutzabkommen festgeschrieben Maximalerwärmung im Vergleich zur vorindustriellen Zeit.
„Idealerweise ab 2030“ soll kein Kohlestrom mehr erzeugt werden, acht Jahre früher als bisher politisch gewollt. Für Erdgas-Strom soll 2040 Schluss sein, für Erdgasheizungen bis Mitte der 2030er Jahre. Wasserstoffproduktion soll zur eigenen Industrie ausgebaut werden und 2030 zehn Gigawatt Energie liefern. Die Ampel will sich für Carbon Contracts for Difference einsetzen – ein Finanzprodukt, das energieintensive Branchen klimafreundlicher machen will.
Den Netzausbau zum Stromtransport will die Koalition einerseits beschleunigen, andererseits grünen Strom „in der Erzeugerregion“ nutzen. Konkrete Zielmarken nennt der Vertrag nicht. „Alle geeigneten Dachflächen“ sollen für Solarzellen genutzt werden, bei gewerblichen Bauten verpflichtend. 200 Gigawatt sollen 2030 aus Photovoltaik kommen. Das Windkraft-Ausbauziel der Ampel liegt wie bisher bei zwei Prozent der Landfläche. Derzeit sind 0,9 dafür genutzt.
Der Artenschutz soll durch Warnsysteme für Vögel verbessert werden, die „Abstände zu Drehfunkfeuern und Wetterradaren“ neu geregelt. Die Windkraftnutzung auf See will die Ampel auf 30 Gigawatt 2030 steigern und bis auf 70 Gigawatt 2045. Offshore-Anlagen sollen auf See Vorrang haben. Bis 2030 soll die Hälfte der für Bauwerke benötigten Wärme klimaneutral erzeugt werden. Um Energie bezahlbar zu halten, soll die EEG-Umlage 2023 wegfallen und der CO2-Zertifikatshandel so gestärkt werden, dass der Preis pro Tonne nicht unter 60 Euro fällt. Die Ampel will, dass Deutschland bis 2045 klimaneutral wird. Vieles davon will die Ampel 2022 in einem sogenannten Klimaschutz-Sofortprogramm bündeln. Alle neuen Gesetze sollen auf ihre Klimaauswirkungen hin geprüft werden.
Finanzierung der Vorhaben
Das Kapitel zur Finanzpolitiker der Ampelregierung findet sich ganz unten im Koalitionsvertrag, hat es aber in sich. Eingeleitet wird es mit einem deutlichen Bekenntnis zur Schuldenbremse. Im kommenden Jahr erwartet die Koalition zwar, noch mit den finanziellen Auswirkungen der Pandemie zu kämpfen zu haben, weshalb die Schuldenbremse zunächst ausgesetzt bleibt. Aber ab „2023 werden wir dann die Verschuldung auf den verfassungsrechtlich von der Schuldenbremse vorgegebenen Spielraum beschränken“, heißt es auf Seite 158. Damit hat sich hier die FDP klar gegen die Grünen durchgesetzt, die nicht nur das Bundesfinanzministerium an Christian Lindner geben, obwohl sie es selbst beansprucht hatten. Sie wollten auch die Schuldenbremse dauerhaft aussetzen, um Spielraum für Zukunftsinvestitionen zu schaffen.
Trotzdem steht im Koalitionsvertrag, dass zugleich „in nie dagewesenen Umfang zusätzliche Mittel eingesetzt“ würden, um das Klimaziel von 1,5-Grad zu erreichen. Wo diese Mittel genau herkommen und wie hoch sie sein sollen, ist aber nicht näher umschrieben – was dafür spricht, dass sich die Ampelkoalitionäre bis zuletzt nicht wirklich einige darüber waren. Vor allem will man den Haushalt effizienter gestalten, klimaschädliche Subventionen sollen abgebaut werden, man möchte „mehr privates Kapital für Transformationsprojekte aktivieren“ sowie „Ausgabenkürzungen vornehmen und Ausgabenreste abbauen“.
Zukunft des Autos und der Bahn
Das Verkehrsministerium soll überraschend doch an die FDP gehen. Für die Grünen wäre es sowieso ein undankbarer Job geworden. Denn im Koalitionsvertrag ist von den grünen Herzensprojekten fast nichts übriggeblieben. Ein Tempolimit wird es weiterhin nicht geben, ebenso wenig ein Verbot von Verbrennungsmotoren ab 2030. Im Koalitionsvertrag wird dafür 2035 angestrebt, so wie auch von der EU-Kommission. Synthetische Kraftstoffe sollen auch darüber hinaus erlaubt sein.
Den Führerschein soll man künftig schon mit 16 Jahren machen und mit Begleitfahrer nutzen dürfen. Die Koalition strebt an, dass bis 2030 mindestens 15 Millionen Elektroautos in Deutschland fahren. Ab 2023 soll es staatliche Kaufprämien und vergünstigte Dienstwagenbesteuerung nur noch für Plug-in-Hybride geben, die nachweislich einen Mindestanteil elektrisch fahren.
Die neue Regierung will „erheblich mehr in die Schiene als in die Straße investieren“ und die Nutzung der Schiene günstiger machen – wenn sich das finanzieren lässt. Die Zahl der Kurzstreckenflüge soll dadurch sinken. Eine Kerosinsteuer und Mindestpreise für Flugtickets sind auf EU-Ebene angestrebt.
Die SPD hat offenbar verhindert, dass die Deutsche Bahn aufgespalten wird, wie es FDP und Grünen vorschwebte. Der Kompromiss sieht nun so aus, dass die DB Netz, die für die Gleise zuständig sind, Teil des Konzerns bleibt, aber nicht mehr auf Gewinn ausgerichtet ist. So soll der Wettbewerb mit den Privatbahnen, die Geld für die Gleisnutzung zahlen, fairer werden.
Hartz IV und Mindestlohn
Hartz IV wird reformiert, die Sozialleistung soll künftig Bürgergeld heißen. In den ersten zwei Jahren des Bezugs soll weder das Vermögen noch die Angemessenheit der Wohnung überprüft werden, danach gelten höhere Grenzen für das Schonvermögen als bisher. Die Zuverdienstmöglichkeiten werden verbessert. Sanktionen wird es anders als von den Grünen gewünscht aber auch künftig geben. Zur künftigen Höhe der Regelsätze gibt es im Koalitionsvertrag keine Angaben. Die Grünen hatten diese ursprünglich sofort um 50 Euro anheben wollen, Sozialverbände forderten mindestens 600 Euro für einen alleinstehenden Erwachsenen (heute 446 Euro).
Den Mindestlohn will die Ampel auf 12 Euro erhöhen, damit haben sich Grüne und SPD durchgesetzt. Die FDP rang ihnen allerdings im Gegenzug eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten ab und die Anhebung der Verdienstgrenzen bei Mini- und Midijobs ab. Weil die Energiepreise derzeit stark steigen, soll es in diesem Winter einen einmaligen Heizkostenzuschlag für einkommensschwache Haushalte geben. Die familienpolitischen Leistungen sollen zu einer Kindergrundsicherung zusammengefasst werden, das war ein Plan aller Ampelparteien. Auch hier gibt es keine genauen Angaben zur Höhe, es heißt lediglich die Kindergrundsicherung solle ein „neu zu definierendes soziokulturelles Existenzminimum“ sichern. Die Kindergrundsicherung soll aus einem Garantiebetrag und einem einkommensabhängigen Zuschlag für ärmere Familien bestehen. Der erhoffte Vorteil im Vergleich zu heute: Das Geld kommt bei ärmeren Familien auch an, weil komplizierte Antragsverfahren wegfallen.
Einstieg in die Aktienrente
Das gesetzliche Rentensystem soll auch in Zukunft die Hauptsäule in der Altersvorsorge sein. Das Rentenniveau soll bei 48 Prozent stabil bleiben, die Beiträge nicht über 20 Prozent steigen. Rentenkürzungen schließen die Ampelparteien ebenso wie eine weitere Anhebung des Renteneintrittsalters aus. Beides waren wichtige Punkte der SPD. Selbständige müssen sich künftig rentenversichern. Außerdem soll der Einstieg in die gesetzliche Aktienrente – eine Idee der FDP – erfolgen. Ein Teil der gesetzlichen Rente soll über den Kapitalmarkt finanziert werden. Dazu wird ein dauerhafter Fonds eingeführt, in den zehn Milliarden Euro aus Haushaltsmitteln eingezahlt werden. Der Fonds soll von einer unabhängigen öffentlich-rechtlichen Stelle verwaltet werden. Die Rentenversicherung soll künftig in dem Aktienfonds auch ihre Reserven anlegen können. So könnte das gesetzliche Rentensystem langfristig von den Renditen am Kapitalmarkt profitieren. Diese Form des Einstiegs in die Aktienrente ist quasi eine Verschmelzung der Vorschläge von FDP und den Grünen, die einen grünen Bürgerfonds einführen wollten.
Mehr Geld für die Pflege
Die Löhne in der Kranken- und Altenpflege sollen angeglichen werden, Zuschläge sollen steuerfrei und Auszubildende besser vergütet werden. Durch ein neues Berechnungssystem soll die Personalsituation in Kliniken und Pflegeheimen verbessert werden, geteilte Dienste werden abgeschafft. Es soll außerdem einen Pflegebonus von einer Milliarde Euro insgesamt geben. Pflegekräfte davon 3000 Euro steuerfrei erhalten können.
Eine Expertenkommission soll zudem Vorschläge machen, wie die Pflegeversicherung zu einer Vollversicherung umgebaut werden kann. Die Eigenanteile in der Pflege sollen begrenzt, das Pflegegeld regelmäßig erhöht werden. Außerdem wird eine Lohnersatzleistung analog zum Elterngeld für pflegene Angehörige eingeführt.
An dem System der gesetzlichen und privaten Krankenkassen hält die Ampel hingegen fest. Um die gesetzlichen Kassen zu stärken wird der Bundeszuschuss dauerhaft dynamisiert, also automatisch an die Inflation angepasst. Das System der Fallpauschalen in den Krankenhäusern, das alle drei Parteien reformieren wollten, wird um erlösunabhängige Vorsorgepauschalen ergänzt. Kliniken bekommen also dann Geld dafür, dass sie eine Leistung anbieten, auch wenn diese nicht unmittelbar in Anspruch genommen wird. In der Geburtshilfe soll eine 1:1-Betreuung durch Hebammen während der Geburt sichergestellt werden, die Geburtshilfe, Notfallversorgung und Kinderkliniken bekommen mehr Geld.
Cannabis-Legalisierung
Künftig soll Cannabis in lizenzierten Geschäften für Erwachsene zu frei erhältlich sein.
Migration und Zuwanderung
Nichts weniger als einen „Neuanfang“ und „Paradigmenwechsel“ verspricht der Koalitionsvertrag, man werde irreguläre Migration reduzieren und reguläre Migration ermöglichen. Neue Migrationsabkommen mit Herkunftsländern sollen diesen beispielsweise mit wirtschaftlicher Zusammenarbeit dabei helfen, die Lebensbedingungen zu verbessern, andererseits den Weg nach Deutschland zu erleichtern, beispielsweise mit Qualifizierungsmaßnahmen für den deutschen Arbeitsmarkt. Das folgt dem Muster der vergangenen Jahre, die Migration schon zu verhindern (oder steuern) zu wollen, bevor sie Deutschland erreicht.
Im Mittelmeer soll Frontex wieder bei der Seenotrettung helfen, die Ampel will Pushbacks an den Grenzen verhindern und die EU trotzdem nicht erpressbar werden lassen – eine Herausforderung, wie gerade der Fall Belarus gezeigt hat. Außerdem will die Koalition „prüfen“, ob man Asylantragsteller nicht zeitweise in Drittstaaten untergebracht werden können, also außerhalb der EU. Das hatte die SPD auch im Konflikt mit Belarus schon vorgeschlagen, die Grünen waren da noch dagegen. Und in Deutschland soll ein neues Gesetz die Asylverfahren beschleunigen – auch, damit schneller abgeschoben werden kann, wenn nötig.
Das Staatsbürgerschaftsrecht trägt eindeutig die Handschrift von Grünen und FDP, hier ist die Abkehr von der Linie der Union am deutlichsten. Zum Beispiel sollen „gut integrierte Jugendliche“ nach drei Jahren Aufenthalt in Deutschland und bis zum 27. Lebensjahr die Möglichkeit für ein Bleiberecht bekommen. Auch soll es keine Kettenduldungen mehr geben, wer zum 1. Januar 2022 schon fünf Jahre in Deutschland ist soll eine einjährige Aufenthaltserlaubnis „auf Probe“ bekommen, um sich einen Job suchen zu können, der den Lebensunterhalt sichert und so die Chance bietet, dauerhaft in Deutschland zu bleiben. Das ist der „Spurwechsel“ zwischen Asyl- und Arbeitsmigraton, den die Union bisher verhindert hatte.
Von einem Punktesystem für die Zuwanderung von Arbeitskräften ist im Vertrag nun allerdings keine Rede mehr. Das ist eine Überraschung, stand es doch noch im Sondierungspapier.
Lesen Sie mehr auf Quelle