Das Büro, in dem Alexander Gauland residiert, ist beeindruckend. Sechste Etage, Jakob-Kaiser-Haus: Eine Glasfront mit bodentiefen Fenstern gibt den Blick frei auf den Reichstag und die Spree. Die Berliner Wintersonne fällt durch die Scheiben und taucht alles in mildes Licht. Der wuchtige Bau der deutschen Volksvertretung wirkt von hier oben fast schon unwirklich nah. Zum Greifen nah.
„Ist mir egal“, sagt Gauland. Ein repräsentatives Büro habe ihn „nie interessiert“. Dazu macht er sein typisches Gauland-Gesicht. Er sieht dann ein bisschen so aus wie eine alte Dogge. Etwas schläfrig, in die Jahre gekommen. Aber jederzeit in der Lage, noch mal kräftig zuzubeißen.
Was diesen Mann wirklich interessiert, ist Macht. Macht für sich und seine Alternative für Deutschland (AfD), die er als Partei- und Fraktionschef anführt. Und diese Macht wächst, von Woche zu Woche. „Wenn die anderen Parteien weitermachen wie bisher, dann ist unser Potenzial groß“, sagt er. Und ruft schon die „Volkspartei“ AfD aus. „Es ist noch ein weiter Weg dorthin. Aber das ist unser Ziel.“
Im Osten hat die AfD die SPD längst überholt
Volkspartei AfD? Mit 92 Abgeordneten sitzt sie im Bundestag, eine Streitmacht, die auf die anderen Fraktionen einschüchternd wirkt. Denn die AfD-Fraktion erscheint fast immer in voller Stärke im Hohen Hause, selbst wenn das „Forstschäden-Ausgleichsgesetz“ auf der Tagesordnung steht. Nach AfD-Logik soll das wohl heißen: Seht her, wir sind die wahren Volksvertreter. Gauland sieht im Bundestag einen neuen „gewaltigen Resonanzboden“ für die AfD.
Wie keine andere Partei profitieren die Rechtspopulisten vom verbreiteten Frust über GroKo-Gequäle und Postengeschacher. Die Flüchtlingskrise hat Gauland einst, nicht ohne zynisches Kalkül, als „Geschenk“ für seine Partei bezeichnet. Die GroKo und die Erosion der großen Volksparteien – das ist nun das zweite große Geschenk.
Was sich derzeit an Peinlichkeiten in den oberen Etagen der deutschen Politik abspielt, wollen die Populisten nutzen für ihre wütenden Attacken auf das „Kartell der Altparteien“. Dass sich die AfD selbst in ihrer Führungsebene seit Jahren erbarmungslose Machtkämpfe liefert, schadet ihr offenbar nicht.
Im neuesten „Deutschland-Trend“ von Infratest Dimap liegt sie landesweit schon bei 15 Prozent. Nur noch ein Prozentpünktchen trennt sie von der SPD. Im Osten, das ergab eine aktuelle Emnid-Umfrage, hat sie die SPD längst überholt und liegt mit 25 Prozent fast gleichauf mit der CDU.
Die aktuelle Schwäche der anderen will die AfD nutzen. Gauland sieht die Möglichkeit, seine Partei jetzt auch thematisch breiter aufzustellen. Mit kapitalismuskritischer Rhetorik will er die AfD als „Partei der kleinen Leute“ inszenieren und die kollabierende SPD weiter schwächen. Die Europa-Politik, einst das Gründungsthema der Partei, bietet sich als zweites Agitationsfeld, denn unter einem SPD-Finanzminister dürfte sie künftig weniger streng gegenüber hoch verschuldeten Südländern ausfallen.
Eine NPD light als neue Volkspartei?
Bisher galt es als eherne Regel, dass eine neue Partei nur dann auf Dauer bei breiten Wählerschichten erfolgreich sein kann, wenn sie mit den Jahren moderater und staatstragender wird. Als bestes Beispiel dafür dient die Entwicklung der Grünen von der radikal-ökologischen Fundi-Truppe zur bürgerlich geprägten Reformpartei. Der Einzug in die Parlamente und die Konfrontation mit Sachzwängen und Kompromissnotwendigkeiten wirkte mäßigend.
Für die AfD gilt das Gegenteil. Sie ist fast überall in die Parlamente eingezogen. Aber der Marsch durch die Institutionen wirkt bei ihr nicht domestizierend, sondern radikalisierend. Spätestens seit dem Abgang von Frauke Petry versucht der völkischnationalistische Flügel um den Thüringer Landeschef Björn Höcke, alle Brandmauern zum rechtsextremen Milieu niederzureißen. Und: Je mehr die AfD sich radikalisiert, desto erfolgreicher wird sie. Das ist das eigentlich Beängstigende.
Eine NPD light als neue Volkspartei? „Für eine solche Prognose ist es viel zu früh“, sagt der Berliner Parteienforscher Oskar Niedermayer. Die AfD-Anhängerschaft sei kein einheitlicher Block: „Es gibt einen harten Kern mit einem ideologisch verfestigten rechtsextremistischen Weltbild. Dazu kommen Nationalkonservative, die in der Union keine Heimat mehr haben, und Protestwähler, die den etablierten Parteien vor allem wegen ihrer Flüchtlingspolitik eins auswischen wollen.“ Wie lange dieses Konstrukt zusammenhalte, sei schwer zu sagen. „Es gibt Wähler, die noch nicht fest an die AfD gebunden sind. Die kann man noch zurückholen. Aber verschwinden wird diese Partei nicht mehr.“
Das Herz dieser neuen AfD schlug vergangene Woche in einer angemieteten Lagerhalle in dem sächsischen Ort Nentmanndorf bei Pirna. Dort hatte die Partei zum „Politischen Aschermittwoch“ eingeladen. Die „Kracherveranstaltung“ (AfD-Eigenwerbung) zum Ticketpreis von 15 Euro war restlos ausverkauft, an langen Biertischen drängten sich rund 1200 Zuhörer. Höhepunkt des Abends waren für sie offenbar die rassistischen Ausfälle, in die sich Sachsen-Anhalts AfD-Chef André Poggenburg hineinsteigerte.
Die Ablehnung eines „Heimatministeriums“ durch die Türkische Gemeinde in Deutschland nahm Poggenburg in seiner Rede zum Anlass für wilde Deportationsfantasien: Die „Kümmelhändler“ und „Kameltreiber“ sollten sich „dahin scheren, wo sie hingehören, weit, weit, weit hinter den Bosporus zu ihren Lehmhütten und Vielweibern!“, brüllte er in die Halle. „Hier haben sie nichts zu suchen und zu melden!“ Die Menge raste vor Begeisterung, Hunderte stiegen auf die Bänke und brüllten: „Abschieben! Abschieben!“
Populistische Ausfälle sind ihm nicht fremd
Die Staatsanwaltschaft Dresden prüft ein Ermittlungsverfahren gegen Poggenburg wegen Volksverhetzung. Vertreter anderer Parteien forderten, die „sich verfestigende Ideologie der AfD“ solle vom Verfassungsschutz beobachtet werden.
Unabhängig von Poggenburgs Hetze hatte der Abend noch mehr zu bieten. Hier, im Bundestagswahlkreis 158, Sächsische Schweiz/Osterzgebirge, war die AfD bei der Bundestagswahl mit 37 Prozent stärkste Kraft. Hier ist sie das, wovon Gauland in seinem Berliner Büro noch träumt: Volkspartei. Und hier kam es zum Gipfeltreffen der völkischen Bataillone in der AfD.
Neben Höcke, dem Anführer des rechten Flügels aus Thüringen, und Poggenburg aus Sachsen-Anhalt waren am Aschermittwoch als Redner auch die ostdeutschen Landeschefs Andreas Kalbitz (Brandenburg) und Jörg Urban (Sachsen) angetreten. Sie wollen die AfD nach rechts verschieben. Die „neue starke mitteldeutsche Achse“ (Kalbitz) will unter anderem den noch aus Petrys Zeiten stammenden Unvereinbarkeitsbeschluss des Bundesvorstands kippen, der bisher jede Zusammenarbeit mit der islamfeindlichen Pegida-Bewegung verbietet. Künftig sollen AfD-Redner auch bei Pegida-Kundgebungen auftreten dürfen und umgekehrt. Kurzerhand schufen die Aktivisten aus dem Osten jetzt Tatsachen. Pegida-Chef Lutz Bachmann saß in der ersten Reihe, gleichsam als Ehrengast. „Ohne euch wären wir nur halb so stark“, rief Höcke in Richtung Bachmann. „Ihr seid ein großer, wichtiger Teil unserer Bewegung!“
Gauland verhält sich dazu wie immer: Allenfalls gibt er Bedenken zu Protokoll, aber den Marsch nach rechts will er nicht stoppen – im Gegenteil. Populistische Ausfälle sind ihm nicht fremd, die Integrationsbeauftragte Aydan Özoguz wollte er unlängst „in Anatolien entsorgen“.
Am Tag nach Poggenburgs Hetzrede sagt er: „Tja, Aschermittwoch, Fasching. Da gibt es nun mal zuweilen eine leider etwas zu derbe Sprache.“ Natürlich sei dies nicht die „normale Form der politischen Auseinandersetzung“ seitens der AfD. Aber: „Ich sehe da keinen Bedarf für eine innerparteiliche Debatte. Das bewegt mich nicht. Das ist kein Rassismus, wenn ich sage: ‚Die Türken gehören nicht zu uns.'“
Vorstoßen und zurückweichen, um dann erneut nachzusetzen
Einen Tag später, als die Empörung über Poggenburgs Rede sich immer noch nicht legen will, macht der AfD-Bundesvorstand unter Gaulands Führung ein Zugeständnis und spricht dem Landeschef einstimmig eine „Abmahnung“ aus – die mildeste disziplinarische Maßnahme, die in der Satzung für Fehlverhalten vorgesehen ist.
Gauland verfolgt eine rhetorische Guerilla-Taktik: Vorstoßen und zurückweichen, um dann erneut nachzusetzen – so bugsiert er die AfD immer weiter ins rechtsradikale Milieu. Dabei wahrt er allenfalls noch Reste bürgerlichen Anstands. Inzwischen spricht er auch von einer Zusammenarbeit mit Pegida: „Eine Annäherung halte ich für möglich“, sagt er. Nur der wegen Körperverletzung, Einbruch und Drogenhandel vielfach vorbestrafte Gründer Bachmann stört ihn. „Ich will unsere bürgerlichen Wähler nicht verlieren. Deswegen wäre es klug von Pegida, wenn Herr Bachmann aus dem Schaufenster der Bewegung verschwindet.“
Zu groß sind die Verlockungen der Macht, gerade im Osten, wo Pegida so etwas wie der außerparlamentarische Arm der AfD werden könnte – und wo 2019 Wahlen in den AfD-Hochburgen Brandenburg, Thüringen und Sachsen anstehen. In Sachsen hofft die AfD sogar, stärkste Partei zu werden, was ihr bei der Bundestagswahl dort bereits gelungen ist. Dann könnte sie erstmals einen „Regierungsauftrag“ für sich reklamieren und Anspruch auf das Amt des Ministerpräsidenten anmelden.
Die Rechtsausleger im Osten träumen allerdings weniger von Koalitionen – eher von der nationalen Revolution. „Wir wollen kein größeres Stück vom Kuchen“, rief Brandenburgs AfD-Chef Kalbitz am Aschermittwoch in die aufgeputschte Menge. „Wir wollen die ganze Bäckerei!“
Gaulands Denken kreist jedoch viel eher um die inneren Prozesse der CDU, in der er 40 Jahre lang Mitglied war und in der er jetzt einen „inneren Gärungsprozess“ beobachtet. „Für mich ist die Frage interessant: Wann ergreift die Unzufriedenheit die Parteibasis und die mittlere Funktionärsschicht? Wann stellt man sich dort die Frage: Ist der Preis zu hoch, den wir für das Kanzleramt von Frau Merkel zahlen?“
Die Entwicklung in der CDU hat direkten Einfluss auf die künftige Stärke der AfD. Vor allem die Frage, wie es nach Merkel bei der CDU personell weitergeht. Ein Konservativer wie Jens Spahn würde die AfD eher schwächen, so Gauland. Aber es gäbe ja auch noch eine Ursula von der Leyen und eine Annegret Kramp-Karrenbauer: „Die Merkelei ist in der CDU tief verankert. Das nützt uns sehr.“
„Hier wird NS-Sprache benutzt.“
Im Bundestag arbeitet Gaulands Truppe mit einer Doppelstrategie. Zum einen zeigen sich die Abgeordneten als fleißige Parlamentarier, die sich in Sachthemen einbuddeln: 23 Anträge hat die Fraktion bisher gestellt, 52 parlamentarische Anfragen eingereicht. Dann wieder werden für die Basis daheim gezielt Provokationen gesetzt. Und dann fällt auf, wie sehr die AfD das politische Klima in Deutschland schon verändert hat. Als der AfD-Abgeordnete Gottfried Curio in einer Debatte über die doppelte Staatsbürgerschaft davon spricht, dass „ein zur Regel entarteter Doppelpass“ Staat und Demokratie untergrabe, hält es den bulligen Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter kaum noch auf dem Sitz. „Schämen Sie sich!“, brüllt Hofreiter. „Hier wird NS-Sprache benutzt. Sie haben ja wohl überhaupt keinen Anstand!“
Für Sekunden hört man nur den oberbayerischen Bass des wütenden Hofreiter, er sieht so aus, als wolle er gleich aufspringen und auf den AfD-Redner losgehen. „Halten Sie den Mund!“, erwidert Gauland mit schneidender Stimme. Ein Hauch von Kneipenschlägerei weht in diesem Moment durchs Hohe Haus.
Man könnte auch sagen: ein Hauch von Weimar.
Der Artikel über Alexander Gauland ist dem aktuellen stern entnommen:
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