Am 4. März wurden der ehemalige Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter bewusstlos auf einer Parkbank in Salisbury südwestlich von London aufgefunden. Beide sollen mit dem Nervengift Nowitschok vergiftet worden sein, so die Einschätzung der britischen Behörden. Sie wurden mit lebensgefährlichen Vergiftungserscheinungen in ein Krankenhaus eingeliefert. Die britische Regierung vermutet aufgrund des verwendeten Nervengifts Russland hinter dem Anschlag. Sie stellte Moskau ein Ultimatum bis Dienstag um Mitternacht, sich zu dem Fall zu erklären, und drohte Russland mit Sanktionen. Die russische Regierung wies das Ultimatum zurück und ließ es verstreichen. Der Kreml weist alle Anschuldigungen zurück und fordert eine Gift-Probe zu Untersuchung. In der Folge brach London am Mittwoch alle bilateralen Kontakte mit Moskau ab und wies 23 Diplomaten aus. Die Antwort aus Moskau wird nicht lange auf sich warten lassen.
Die Beweislage ist zurzeit in der Tat nicht klar. Im Allgemeinen gibt es viele unbeantwortete Fragen, die Zweifel an Russlands Status als Hauptverdächtigem zulassen. Zu seltsam kommt einigen der Zeitpunkt und Art des Anschlags vor.
Der deutsche Historiker und Professor für Neuere Geschichte und Geschichte der internationalen Beziehungen an der Philipps-Universität Marburg, Wolfgang Krieger, ist jedoch nicht der Meinung, dass der Zeitpunkt des Anschlags unbedingt gegen eine Täterschaft des Kremls spricht. Krieger gilt als einer der führenden deutschen Experten für die Geschichte der Nachrichtendienste und beschäftigt sich mit aktuellen Fragen der Geheimdienstpolitik und der internationalen Sicherheitspolitik. Gegenüber dem stern erklärte er, warum er auf jeden Fall in Russland die Drahtzieher des Anschlags suchen würde.
Dr. Krieger, die Regierung in London macht Russland für den Anschlag auf Skripal verantwortlich. Was ist Ihre Einschätzung?
Es spricht alles dafür, dass der Anschlag aus Russland koordiniert wurde. Was aber unklar ist, ob der Befehl aus dem Kreml kam oder nicht. Das Nervengift Nowischok wurde in der Sowjetunion entwickelt und produziert. Bis heute ist die Zusammensetzung des Giftes geheim. Seine Spur führt also eindeutig nach Russland.
Ist es denn nicht möglich, dass ein anderer Staat oder ein fremder Geheimdienst in den Besitz des Nervengifts gelangt ist oder vielleicht noch Reste aus der Sowjetzeit besitzt?
Das ist sehr unwahrscheinlich. Chemiewaffen unterliegen der strengsten Geheimhaltung und staatlicher Kontrolle. Entweder stammt das Gift also aus den Arsenalen Moskaus oder die russische Regierung hat die Kontrolle über die Bestände verloren.
Außerdem ist es an sich erklärungsbedürftig, warum Nowitschok überhaupt noch existiert. Laut der Chemiewaffenkonvention von 1992, die auch Russland unterzeichnet hat, ist die Entwicklung, Herstellung, Lagerung und der Einsatz chemischer Waffen verboten. Alle Bestände sollten demnach vernichtet werden. Es stellt sich also die Frage, warum es dieses Nervengift noch gibt. Moskau ist auf jeden Fall also in Erklärungsnot.
Skripal wurde 2004 wegen Landesverrats verurteilt, 2010 aber begnadigt und freigelassen. Warum sollte ausgerechnet jetzt, acht Jahre später jemand in Russland ein Interesse daran haben, ihn zu ermorden? Das hätte man viel früher, einfacher und ohne so viel Aufmerksamkeit machen können.
Es sind mehrere Szenarien möglich. Zum einen könnte es sich um eine Machtdemonstration Putins handeln, eine Botschaft an die ganze Welt: Ich kann jeden beseitigen, den ich will, egal wann, egal wo, ungeachtet aller Konsequenzen.
Zum anderen ist auch vorstellbar, dass jemand aus Regierungs- oder Geheimdienstkreisen auf eigene Faust gehandelt hat, ohne sich mit Putin abzusprechen – im Glauben, in seinem Sinne zu handeln.
Könnte der Befehl zum Anschlag auch von einer Partei außerhalb des Putin-Kreises gekommen sein?
Das ist ebenfalls vorstellbar. Es könnte auch ein Schlag gegen Putin sein, organisiert von internen russischen Kräften, die gegen den Präsidenten operieren und jetzt kurz vor der Wahl ihm schaden wollen.
Und es ist noch ein viertes Szenario möglich. Skripal war Oberst des GRU, eines besonders geheimen Geheimdienstes, wenn man so will. Sein Verrat wiegt schwer und verletzte die Ehre der Geheimdienstler. Es könnten also zum Beispiel auch ehemalige Agenten hinter dem Anschlag stecken, die Rache nehmen wollten. Früher stand auf Landesverrat die Todesstrafe. Diese gibt es in Russland nicht mehr. Aber es könnte immer noch einige Menschen geben, die denken, dass Verräter nicht freigelassen werden sollten und den Tod verdienen.
Wer ist Sergej Skripal?
Skripal arbeitete für den russischen Militärgeheimdienst GRU, spionierte aber auch für den britischen Geheimdienst MI6. Seine Aufgabe war es, verdeckte russische Agenten in diversen europäischen Ländern zu enttarnen. Zudem soll der 66-Jährige kompromittierendes Material über russische Geheimdienstler gesammelt haben, um diese erpressbar zu machen. Für seine Arbeit zahlten die Briten Skripal insgesamt mehr als 100.000 Dollar (81.000 Euro).
2004 wurde Skripal in Russland wegen Landesverrats festgenommen. Weil er aber mit den Behörden kooperierte, wurde er von einem Militärtribunal lediglich zu 13 Jahren verurteilt, obwohl für Landesverrat 20 Jahre Haft vorgesehen sind. 2010 kam er im Rahmen eines internationalen Gefangenenaustauschs vorzeitig frei und fand danach Asyl in Großbritannien. Im Gegenzug kam unter anderem die in den USA inhaftierte Anna Chapman frei – sie soll für Russland spioniert haben.
Read more on Source