Es sollte ein Fest der Ausgelassenheit und Freude werden, der Abschied von einem Jahr, in dem es zahlreiche schwere Attentate in Istanbul und anderen Teilen des Landes gegeben hatte. Seit dem frühen Sonntagmorgen ist aber klar: Die größte Stadt der Türkei erlebt einen blutigen Start in das Jahr 2017.
„Wir waren gekommen, um einen schönen Abend zu verbringen, doch plötzlich war alles Chaos – eine Nacht des Horrors“, beschreibt Maximilien, ein italienischer Tourist, die Silvesternacht im Nachtklub Reina in Istanbul. Wie Hunderte andere war er in das angesagte Lokal unterhalb der großen Bosporus-Brücke im schicken Stadtteil Ortaköy gekommen. Am frühen Sonntagmorgen soll dort nach offiziellen Angaben ein Attentäter mindestens 39 Menschen erschossen und Dutzende weitere teils schwer verletzt haben. Laut der Regierung waren unter den Opfern auch mindestens 15 Ausländer.
„Gerade als wir uns am Eingang niedergelassen hatten, gab es plötzlich Schüsse. Alles war voller Staub und Rauch“, berichtet der Profifußballer Sefa Boydas vom Istanbuler Klub Beylerbeyi. Mehrere Menschen seien in Ohnmacht gefallen, auch eine seiner Begleiterinnen. „Ich habe sie auf den Rücken genommen und bin sofort gerannt. In solchen Momenten wartet man nicht. Links waren Schüsse zu hören, also rannten wir nach rechts.“
Während Frauen in Cocktailkleidern und Männer mit Papphüten vom Anschlagsort flohen, rasten Polizeiautos und Krankenwagen heran. Die Polizei sei schnell eingetroffen, doch habe sie nicht gewusst, wer der Schütze ist, sagt Boydas. „Sie verdächtigten uns alle.“ Der Fußballer bezweifelt die offiziellen Angaben, wonach es 39 Tote gab. „Es waren wahrscheinlich mehr. Als ich hinausrannte, traten die Leute auf andere Leute.“
Der Angreifer soll gegen 01.15 Uhr in den Nachtklub eingedrungen sein und mit einem Gewehr das Feuer auf die Sicherheitsleute vor dem Eingang eröffnet haben. Zahlreiche Menschen sprangen in Panik in das eiskalte Wasser des Bosporus, an dessen Ufer der aus mehreren Restaurants bestehende Klub liegt.
Der 22-jährige Mehmet Dag berichtete, dass er am Klub vorbeilief, als er den vermutlichen Attentäter auf einen Polizisten und eine weitere Person schießen sah. Nachdem der Angreifer in den Klub gelangt sei, habe man „Schießgeräusche und nach zwei Minuten ein Explosionsgeräusch“ gehört. Von Explosionen ist in anderen Augenzeugenberichten nicht die Rede.
Klubbesucherin Sinem Uyanik sagte der Nachrichtenagentur AP, dass sie mehrere Getroffene gesehen habe. Auch ihr Mann sei verletzt worden. „Bevor ich überhaupt verstehen konnte, was passierte, fiel mein Mann auf mich“, sagte sie. „Ich musste mehrere Körper von mir runterschieben, bevor ich rausgehen konnte“, berichtete sie vor dem Istanbuler Sisli-Krankenhaus, in das ihr Mann gebracht wurde. Er soll trotz seiner Verletzungen in guter Verfassung sein.
Die Istanbuler Polizei hatte für den Jahreswechsel 17.000 Beamte mobilisiert, nachdem es im vergangenen Jahr in der Stadt immer wieder schwere Anschläge der Terrormiliz „Islamischer Staat“(IS) sowie der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) beziehungsweise ihrer radikalen Splittergruppe Freiheitsfalken Kurdistans (TAK) gegeben hatte. Doch die Polizei konnte den Attentäter nicht aufhalten. Er soll auf der Flucht sein.
„Ich kann sie seitdem nicht erreichen“
Im kalten Morgengrauen warten Dutzende Krankenwagen in einer langen Schlange vor dem Anschlagsort, um die Verletzten und Toten fortzubringen. Eine Frau um die fünfzig geht suchend zwischen den herumstehenden Gruppen vor dem Klub umher. „Meine Schwester war drinnen“, sagt sie unruhig. „Sie rief mich an und sagte, es gebe Schüsse, das war alles. Ich kann sie seitdem nicht erreichen.“
Ein Mann will hinein ins Reina. Er schreit, dass er jemanden in dem Nachtklub am Bosporus kenne. Als ein Polizist einen Arm um seine Schultern legt und ihn an sich zieht, bricht der Mann in Tränen aus.
Eine Frau in einem roten Mantel mit einer großen Einkaufstasche über der Schulter wartet ebenfalls an der Absperrung. „Mein großer Bruder war drinnen. Gott sei Dank hat er gesagt, dass es ihm gut geht. Ich warte nun auf ihn“, berichtet sie, während nach und nach die Schlange der Krankenwagen kürzer wird, bis schließlich ein Polizist den Wartenden mitteilt, dass niemand mehr im Innern des Reina ist.
Die Frau im roten Mantel eilt schnell davon mit dem Telefon am Ohr. „Weine nicht, weine nicht, wir kommen“, sagt sie. Zurück bleiben schwer bewaffnete Polizisten, die Schals gegen die Winterkälte bis über die Nase gezogen.
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