Bei ihren Besuchen in Ägypten und im Libanon wird Außenministerin Annalena Baerbock mit grausamen Dramen des Krieges in Israel konfrontiert. Es zeichnet sich kaum Entspannung für die Menschen im Gazastreifen ab. Oder etwa doch?Patrick Diekmann berichtet aus Rafah und Beirut.Der Tag beginnt mit einem Sturm. Der Himmel grau, hohe Wellen schlagen an die libanesische Mittelmeerküste. Heftiger Regen scheucht die Menschen vom Strand weg, in Sicherheit. Es ist eine Wetterlage, die fast ein Sinnbild für die politische Lage im Nahen Osten ist.Nach ihren Besuchen in Israel und in den palästinensischen Gebieten reiste Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) am Montag und Dienstag nach Ägypten und in den Libanon: Zwei Länder, die Gesprächskanäle zur Terrororganisation Hamas unterhalten und die somit eine Schlüsselrolle einnehmen: für Verhandlungen über die Freilassung der Geiseln im Gazastreifen und über humanitäre Hilfe für die palästinensische Zivilbevölkerung. Was die Suche nach einer möglichen Lösung nicht unbedingt einfach macht: Auch Kairo und Beirut haben Eigeninteressen.Baerbock wird verdeutlicht: Viele Parteien wollen, dass das Sterben der palästinensischen Zivilbevölkerung im Gazastreifen aufhört. Doch getan wird wenig. Die Krisendiplomatie hängt fest wie Zahnräder, die sich ineinander verhakt haben. Fortschritte gibt es wenige, das gegenseitige Vertrauen der relevanten Parteien in der Region ist komplett zerstört. Das führt zu Wut, Hass, Tatenlosigkeit und in einen Zustand, in dem selbst die einfachsten Hilfsmaßnahmen nicht oder nur langsam umgesetzt werden können.Die Außenministerin möchte diese Prozesse beschleunigen, erlebt auf ihrer Reise immer wieder Szenen, die unter die Haut gehen. Dabei geht es auf dem Papier gerade um die Umsetzung des Völkerrechtes in diesem Krieg: Um den Schutz und die Versorgung der Zivilbevölkerung und die Verhinderung einer Ausweitung des Konfliktes. Deutschland und die USA fürchten den „Point of no Return“, ab dem die Gewaltspirale nicht mehr aufzuhalten ist und jede Hoffnung für die 1,9 Millionen Vertriebenen im Gazastreifen schwindet. Bewegen müssen sich alle, auch Israel muss seine Strategie anpassen. Ein Dilemma mit vielen Facetten, mit denen auch Baerbock bei ihren Besuchen in diesen Ländern konfrontiert wurde. Überall herrscht große Wut.Deutsche Fregatte plötzlich an der FrontAm Mittwochvormittag hatte sich der Sturm zeitweise gelegt, die Sonne schien einige Stunden in Beirut. Baerbock besuchte die deutsche Fregatte „Baden-Württemberg“, die gerade im Hafen von Beirut vor Anker liegt, an der UN-Mission Unifil teilnimmt und vor allem die libanesische Marine unterstützen soll.Ziel der Unifil ist es, den Waffenstillstand an der israelisch-libanesischen Grenze zu überwachen. Seit 2006 engagiert sich Deutschland mit Personal und Schiffen bei der UN-Mission – wie jetzt die „Baden-Württemberg“. Seit Januar 2021 führt ein deutscher Admiral den Marineverband der Unifil. Sein Hauptaugenmerk: Die Durchsetzung des UN-Waffenembargos in den Küstengewässern des Libanons.Baerbock erfuhr auf der deutschen Fregatte, dass sich der Einsatz seit dem 7. Oktober deutlich verändert hat – also seit dem Tag, an dem die Terrororganisation Hamas Israel angriff und den Krieg im Gazastreifen auslöste. Seither dokumentiert auch die „Baden-Württemberg“ israelische Luftschläge, zeichnet den Raketenbeschuss der Hisbollah und den darauffolgenden Gegenbeschuss der israelischen Armee mit Artillerie, Drohnen oder Kampfflugzeugen auf. Teilweise sind die Explosionen von der Brücke des deutschen Kriegsschiffes zu sehen. Die Soldaten an Bord berichten von einem Einsatz, auf den man sich mental kaum vorbereiten kann. Plötzlich ist die „Baden-Württemberg“ nah an der Front, doch für die Lager der UN-Mission an Land ist die Situation noch dramatischer. Die radikal-islamische Hisbollah, die gut ein Drittel des Libanon kontrolliert, schießt ihre Raketen teilweise in der Nähe der UN-Lager ab, sodass der israelische Gegenbeschuss diesen Camps gefährlich nahekommt. Die UN-Soldaten geraten also in die Schusslinie beider Konfliktparteien – und die „Baden-Württemberg“ wird auf See der stille Zeuge dieser Eskalation.Angst vor dem FlächenbrandEs könnte noch viel schlimmer kommen: Wenn die Hisbollah an der Seite der Hamas in den Krieg gegen Israel einsteigen würde. Baerbock beschwichtigt zwar, und immerhin hat es die Hisbollah bislang tunlichst vermieden – aller Hetze gegen Israel zum Trotz – noch weiter zu eskalieren. Es gibt zwar immer wieder Angriffe auf Israel, die großes Leid bei Menschen auf beiden Seiten der Grenze verursachen. Aber sie finden deutlich unter der Schwelle statt, die einen weiteren Krieg bedeuten würden.“Wenn sich der Konflikt ausweiten würde, wäre das eine Katastrophe für beide Länder“, sagte die deutsche Außenministerin bei einem Pressestatement auf der „Baden-Württemberg“. Die Menschen im Libanon und im Norden Israels verbinde der Wunsch nach einem friedlichen Zusammenleben. Und in der Tat: Dass der Flächenbrand noch nicht ausgebrochen ist, macht vielen Beobachtern zumindest etwas Hoffnung. Das Leid der Menschen in Gaza aber wird in Ländern wie dem Libanon zur gesellschaftlichen Wutprobe.“Es zerreißt einem das Herz“Diese Wut bekam Baerbock schon in Ägypten zu spüren. Bei der Pressekonferenz mit ihrem ägyptischen Amtskollegen Samih Schukri wurde klar: Ägypten ärgert, dass Deutschland den israelischen Militäreinsatz im Gazastreifen unterstützt. Baerbock muss beruhigen und zugestehen, dass die palästinensische Bevölkerung mehr unterstützt werden und dass die israelische Arme ihre Militärstrategie ändern muss. Das Leid der Menschen in Gaza könnte politisch und gesellschaftlich in vielen muslimisch geprägten Ländern zum Sprengsatz werden, der eben den Flächenbrand auslöst, den Deutschland oder auch die USA um jeden Preis verhindern möchten. Für die Bundesregierung ist das ein extremer Spagat – einerseits Israels Selbstverteidigungsrecht betonen und für die palästinensische Zivilbevölkerung einstehen. Rafah ist der einzige Grenzübergang zwischen Ägypten und dem Gazastreifen. Er ist ein Nadelöhr: Die Lastwagen warten hier auf die Kontrolle durch israelische Soldaten. Erst dann dürfen sie passieren, und mit ihnen ihre Ladung. Manche warten tagelang. Auch darauf weist Baerbock an diesen abgelegenen Ort hin, in Sicht- und Hörweite des Krieges. Die Lastwagen hätten „all das geladen, was die Menschen am dringendsten brauchen“. Aber sie kommen kaum durch. 3000 Lastwagen stauen sich derzeit. „Es zerreißt einem das Herz, diese Trucks zu sehen“, so die Außenministerin.Kontrollen verzögern HilfenEs ist wahrlich ein Tor zur Hölle. Die Lage in Rafah ist dramatisch. Hinter der Grenze liegen mehrere hundert Meter neutrales Gebiet, danach kommt ein weiterer Kontrollposten. Ein Katzensprung, und dennoch leben die 1,5 Millionen Menschen, die laut Hilfsorganisationen im Süden des Gazastreifens auf Hilfe warten, in einer anderen Welt. Die Vereinten Nationen warnen vor einer Hungerkatastrophe – und die Hilfe läuft viel zu langsam.Das liegt vor allem am fehlenden Tempo der israelischen Kontrollen, wie Baerbock vor Ort erfuhr. Die israelische Armee gibt die tägliche Menge an Hilfslieferungen vor, muss alle Lastwagen kontrollieren, selbst Verletzte oder Geflüchtete, die nach Ägypten möchten, brauchen erst eine Freigabe. Deswegen sollen Familien den Helfern Kleinkinder in die Hand drücken, wenn diese eine Freigabe haben, aber der Rest der Familie nicht. Tragödien spielen sich ab. Warum also ermöglicht Israel nicht mehr Hilfslieferungen? Schließlich stehen die Lastwagen bereit. Warum wird die gesundheitliche Versorgung limitiert? Warum öffnen Israel und Ägypten nicht mehr Grenzübergänge. All diese Fragen ließen Baerbock am Dienstag teilweise ratlos zurück.Israel gerät unter DruckDas UN-Nothilfebüro OCHA hat während des Besuches der Außenministerin vor einer Ausweitung der heftigen Kämpfe auf den südlichsten Teil des Gazastreifens gewarnt. „Dieser Konflikt darf nicht in großem Stil nach Rafah kommen“, sagte Gemma Connell, Leiterin des OCHA-Teams in Gaza, am Grenzübergang.Schon jetzt gebe es jede Nacht Luftangriffe. Die Menschen könnten nirgendwo anders hin und müssten geschützt werden. „Viele von uns haben in vielen Kriegen gearbeitet und noch keiner von uns hat jemals so etwas gesehen“, sagte sie zum Ausmaß der Zerstörung. „Es gibt buchstäblich keinen sicheren Ort in Gaza, was dies zu einem einzigartigen Konflikt weltweit macht.“ Auch mit Blick auf die bisher mehr als 130 getöteten UN-Mitarbeiter und Angriffe gegen UN-Einrichtungen sei die Lage beispiellos.Unter diesen Eindrücken in Rafah erhöhte Baerbock den Druck und nahm die israelische Führung in die Pflicht. Israels Angriffe entfalteten eine Zerstörungskraft, die weite Teile des Gebiets unbewohnbar mache. Den Menschen im Gazastreifen fehle es am nötigsten, die Lebensmittelversorgung sei zusammengebrochen. Deshalb komme es nun „ganz entscheidend auf die Schnelligkeit der Lieferungen an“, sagte die Außenministerin. Ein Wettlauf mit der ZeitDie Abfertigung der Hilfslieferungen über Rafah sei zu ineffizient. Baerbock spricht von „Flaschenhälsen“ und „bürokratischen Sackgassen“. Aktuell sei es „nicht genug, was bei den Menschen ankommt“. Baerbock forderte die Öffnung weiterer Grenzübergänge für Hilfslieferungen und humanitäre Feuerpausen, um Helfern die Arbeit zu ermöglichen.Dahinter steckt eine Strategie Baerbocks: Wann immer sie sich öffentlich äußert, wirbt sie um Mitgefühl, um Verständnis für das Leid der anderen Seite. Immer wieder kommt sie auf die ausweglose Lage von Kindern und Familien zu sprechen, auf das Leid der israelischen Geiseln der Hamas. „So wie es ist, darf es nicht bleiben“, sagte sie etwa in Ägypten. Wenn beide Seiten leiden, müssten doch beide Seiten nach Auswegen suchen. Das ist die deutsche Position.Doch am Ende musste Baerbock am Mittwoch mit leeren Händen abreisen. Keine Feuerpause, keine weiteren humanitären Korridore. Doch sie fliegt mit der Hoffnung aus Beirut ab, vielleicht den Grundstein für etwas gelegt zu haben: Israel deutete zumindest bereits an, seine Militärstrategie anzupassen. Es sind eher kleine Schritte in die richtige Richtung. Für die palästinensische Zivilbevölkerung im Gazastreifen ist es ein Wettlauf mit der Zeit. Ihr Leid wird für die gesamte Region zu einer tickenden Zeitbombe. Sollte sie nicht entschärft werden, wird die Wut auf Israel international zur weiteren Belastungsprobe auch für Deutschland. Dann droht eine Eskalation, die eigentlich niemand möchte.
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