Merkel. Kennen wir. Mit Risiken und Nebenwirkungen. Dachten wir. Wobei die Risiken und Nebenwirkungen sich bislang darauf beschränkten, dass das – frei nach Oliver Kahn – sehr Merkelsche „Weiter, immer weiter“ in ein schnödes „Weiter so“ mündete: Trocken bis technokratisch, pragmatisch, dass es nur so staubt. Viel Basis. Wenig Überbau. Wird schon.

Und heute? Merkels erste Regierungserklärung in ihrem vierten Term? Nichts davon, was die sedierenden Nebenwirkungen angeht, na ja, fast nichts. Stattdessen: Ein Sinnzusammenhang zwischen ihrem Tun von gestern, den Fehlern der Vorzeit („Wir haben zu lange weggesehen“), den Herausforderungen im Jetzt und den Ideen für die Zukunft.

Angela Merkel hat Fehler eingestanden

Angela Merkel, das muss man so sagen, hat eine gute Regierungserklärung gehalten. Und das fing schon mit dem Anfang an. Es ist eine Rede über den Zusammenhalt der Gesellschaft geworden, und wie sie, Merkel, ihn sich vorstellt. Wie befreit wirkte die Kanzlerin von dem Geschacher der letzten sechs Monate, in denen es um Macht und Machterhalt ging – und sonst anscheinend um nicht allzu viel. Wie befreit und – ja, frei. Und auch bereit loszulegen.

Angela Merkel nahm sich dazu das Recht heraus, zu Beginn ihrer vierten (und womöglich letzten, wer weiß das schon?) Amtszeit in jene Krisenmonate des Jahres 2015 zurückzukehren, dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, um jene Politik zu rechtfertigen, für die sie den zweischneidigen Titel „Willkommenskanzlerin“ erhalten hatte.

Ein Quantum Empathie. Ein kurzer Satz – „Wir schaffen das“. Was war so falsch daran? „Ja, das war eine unglaubliche Bewährungsprobe für unser Land – und unser Land kann stolz darauf sein.“ Es ist, als ob die Kanzlerin an diesem Mittwoch im Bundestag für einen Moment zurückgekehrt wäre zu jener Haltung, für die sie in der Folgezeit so heftig kritisiert worden ist. Nicht trotzig – nein, reflektierend.

Denn Merkel hat die Fehler eingestanden, die in der Folgezeit entstanden sind, hat die Überforderung des Staates und wohl auch der Gesellschaft erkannt, die sich in den Monaten danach vor allem daraus ergeben hatte, dass kein Ende des Flüchtlingszustroms erkennbar war. Merkel hat dies alles getan unter dem großen Bogen des Zusammenhalts der Gesellschaft.

Und weil das an dieser Stelle gerade so gut passte, hat Merkel auch ihrem aufmerksam auf der Regierungsbank zuhörenden Innenminister Horst Seehofer („Der Islam gehört nicht zu Deutschland“) eine verpasst und genau diesen Islam als einen Teil Deutschlands bezeichnet. Man muss es im Zusammenhang lesen, dann wird die Botschaft klar: „Es steht völlig außer Frage, dass die historische Prägung unseres Landes christlich und jüdisch ist“, sagte Merkel. „Doch so richtig das ist, so richtig ist es auch, dass mit den 4,5 Millionen bei uns lebenden Muslimen ihre Religion, der Islam, inzwischen ein Teil Deutschlands geworden ist.“

Frontalangriff auf Horst Seehofer

Und dann greift die Kanzlerin den renitenten Bayern frontal an: Viele hätten ein Problem damit, „diesen Gedanken anzunehmen – und das ist auch ihr gutes Recht“, sagte Merkel. Die Bundesregierung habe aber die Aufgabe, alle Diskussionen so zu führen, dass am Ende durch konkrete Entscheidungen der Zusammenhalt aller dauerhaft in Deutschland lebenden Menschen größer und nicht kleiner werde. Wer will, der kann diesen Satz als mehr als zarte Andeutung lesen, dass Angela Merkel auf ihre politisch alten Tage durchaus bereit ist, von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch zu machen.

Merkel? Kennen wir. Dachten wir. Mal sehn, wie viel Spaß die Kanzlerin an ihrer neuen Freiheit noch haben wird. Nebenwirkungen bei Horst Seehofer nicht ausgeschlossen.

s Hier nachlesen: Die Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel im stern-Liveblog s

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