London – Auch wenn es unglaublich klingt: Die Corona-Variante Omikron scheint Boris Johnson den Job zu retten. Der britische Premierminister zeigt sich zum Jahreswechsel einmal mehr als Überlebenskünstler.
Eben noch wirkte es, als sei der Regierungschef in eine Sackgasse geraten, aus der es kein Entkommen gibt. Johnson sei «snookered», er habe keinen Ausweg, zitierte das Internet-Portal «Politico» kürzlich ein ranghohes Mitglied der Konservativen Partei.
Doch davon ist aktuell keine Rede mehr. Denn mit seinem Kurs, trotz der rasanten Omikron-Ausbreitung auf schärfere Corona-Regeln zu verzichten, liegt Johnson offensichtlich richtig. Obwohl Omikron hochansteckend ist, ist der Krankheitsverlauf offenbar milder als befürchtet. Prompt jubelten konservative Medien und Politiker, die Neujahrsfeier sei gesichert. Auch die Opposition findet keinen Haken an der Sache. Zudem sorgt die Festtagsruhe dafür, dass die vielen Skandale rund um die Downing Street derzeit wenig beachtet werden. Es wirkt wie ein klassischer Fall von «Glück gehabt» für Johnson.
Doch die Ruhe ist trügerisch. Denn der Premier steht nach gut zwei Jahren im Amt weiter erheblich unter Druck, auch und vor allem in den eigenen Reihen. Spätestens, als seine Tories bei einer Nachwahl Mitte Dezember erstmals seit fast 200 Jahren den Parlamentssitz in ihrer Hochburg North Shropshire verloren, war Johnson offiziell angezählt. «Noch ein Streich, und ich denke, es ist aus», sagte Tory-Veteran Roger Gal. Und der Sender Sky News zitierte einen «ehemaligen Verbündeten» Johnsons: «Er hat acht seiner neun Leben aufgebraucht.»
Die Liste der Vorwürfe ist lang, und so mancher Kommentator wundert sich, dass Johnson noch immer im Amt ist. Da sind mehrere Korrputions- und Lobbyskandale von Tory-Abgeordneten, die Johnson in Schutz nahm. Dann ist da die fragwürdige Finanzierung des Luxus-Umbaus in Johnsons Dienstwohnung durch vermögende Spender, die noch immer nicht ausreichend beantwortet ist. Vor allem empören sich die Briten über mehrere Weihnachtsfeiern in der Downing Street und in anderen Regierungsgebäuden, während der Rest des Landes 2020 im Lockdown saß.
Die größte Gefahr lauert aber in den eigenen Reihen: Als Johnson die Corona-Regeln ganz leicht verschärfen wollte, war er auf die Stimmen der Opposition angewiesen – fast 100 Tories stimmten im Unterhaus gegen ihn. Das Signal war klar: Bis hierhin und nicht weiter. Dass jüngst Brexit-Minister David Frost wegen Corona-Differenzen abtrat, gilt als weiterer Schlag für Johnson. Die Uhr tickt, seine Beliebtheitswerte bei der konservativen Basis sind auf einem Tiefpunkt. Es sei keine Frage, ob Johnson das Amt verliere, sondern wann, kommentierte die gut vernetzte BBC-Reporterin Laura Kuenssberg. Offen diskutieren britische Medien bereits über mögliche Nachfolger.
Zur Debatte stehen vor allem zwei Kabinettsmitglieder: Da ist zum einen Finanzminister Rishi Sunak, der angeblich mit Johnson über Kreuz liegt. Der 41-Jährige, erst kurz vor der Pandemie ins Amt gekommen, wird für sein Krisenmanagement gelobt. Nachteil: Der wohlhabende Ex-Investmentbanker gilt nicht als Mann des Volkes.
Favoritin ist Außenministerin Liz Truss, derzeit größter Darling der Tory-Basis. Die 46-Jährige, erst im September vom Handelsministerium befördert, weiß sich in Szene zu setzen. In den ersten sechs Wochen im neuen Amt wurden von ihr mehr Fotos auf der Flickr-Seite der Regierung veröffentlicht als von allen anderen Kabinettsmitgliedern zusammen. Und Truss ist aktiv dabei, Unterstützer zu sichern, trifft sich zum Dinner oft mit einflussreichen Spendern, wie Medien berichten. Nachteil: Nach dem Frost-Rücktritt ist Truss für die schwierigen Beziehungen zur EU verantwortlich. Die Verhandlungen wirken oft wie ein Minenfeld.
Noch aber ist Johnson am Ruder. Weder Sunak noch Truss fallen bisher mit großen Ideen auf. Impulse aber werden dringend benötigt. Denn Johnson wird vorgeworfen, auf drängende Fragen keine Antworten zu kennen. Steigende Armut, explodierende Energiekosten, grassierende Inflation – Johnson lässt, ganz libertärer Tory, den Markt machen und riskiert Unmut in der finanziell schwer belasteten Bevölkerung. Der Brexit, dessen Umsetzung Johnson versprach und dem er seinen überwältigenden Wahlsieg 2019 verdankte, zieht längst nicht mehr als Wahlkampfthema. Eher versucht die Regierung verzweifelt, die vielen offensichtlichen Nachteile des EU-Austritts zu negieren.
Derzeit halten Corona und die erfolgreiche britische Impfkampagne den Premier im Amt. Doch strotzte Johnson im Herbst noch vor Macht, wachsen nun die Zweifel, ob er überhaupt bis zum Ende seiner Amtsperiode 2024 durchhält. Eine Strategie könne nicht ohne einen Strategen durchgesetzt werden, kommentierte ausgerechnet Johnsons Hausblatt «Telegraph» im Dezember: Die Gefahr werde unterschätzt, es werde falsch geurteilt und die Orientierung gehe verloren.
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