Großbritanniens Premierministerin Theresa May hat im letzten Moment einen Rückzieher gemacht und die eigentlich für Dienstagabend geplante Abstimmung über das Brexit-Abkommen im britischen Parlament verschoben. May will zunächst mit ihren Amtskollegen aus den EU-Staaten und den Spitzen der Europäischen Union nachverhandeln. Doch die Rufe nach einem Rücktritt der Regierungschefin und nach einem zweiten Brexit-Referendum werden immer lauter. Derweil hat der Europäische Gerichtshof am Montag entschieden, dass Großbritannien den Brexit bis zum Ende der Zweijahresfrist nach der Austrittserklärung ohne Zustimmung der übrigen EU-Staaten eigenständig wieder stoppen könnte. Diese Frist endet am 29. März 2019.
So bewertet die deutsche Presse die jüngsten Brexit-Entwicklungen:
„Mittelbayerische Zeitung“: Lange hat sich London nicht entscheiden können, welche Art von Brexit angestrebt werden soll. Die Verhandlungen mit Brüssel unter einem Brexit-Minister David Davis, der stets so naiv wie unvorbereitet war, gerieten zum Fiasko. Und immer wieder ging Premierministerin Theresa May einem Showdown mit dem harten Brexit-Flügel innerhalb ihrer Partei aus dem Weg. Wie auch jetzt.
„Rheinische Post“: Aus der mathematischen Spieltheorie stammt eine Konstellation, in der zwei Sportwagen aufeinander zu rasen und derjenige verliert, der als erster bremst. Wie in der berühmten Szene aus dem James-Dean-Film „Denn sie wissen nicht, was sie tun“. Das Feiglingsspiel, wie es bei den Experten heißt, ist derzeit im Dreieck zwischen Downing Street, britischem Parlament und der EU zu beobachten. Am Montag hat die britische Premierministerin Theresa May die entscheidende Abstimmung über den Brexit auf unbestimmte Zeit verschoben und will mit Brüssel nachverhandeln. Doch die EU hat jede weitere Konzession abgelehnt. Damit droht der harte Brexit, der beide Seiten maximal schädigt. In der Spieltheorie gibt es mehrere Lösungen für diese Situation. Eine davon wäre: Die EU gibt Großbritannien eine zweite Chance. Etwa eine neue politische Erklärung über das künftige britisch-europäische Verhältnis, bis alles geklärt ist. Im Gegenzug müsste London explizit auf einen harten Brexit verzichten. Noch immer ist jede Verhandlungslösung besser als das Chaos, das einem endgültigen Bruch folgt.
„Straubinger Tagblatt/Landshuter Zeitung“: Die Entscheidung der britischen Regierung, die für diesen Dienstag angesetzte Abstimmung über den Brexit-Deal von Premierministerin Theresa May zu vertagen, mag unerhört sein. Aber kann sie überraschen? Sie ist eigentlich nur ein weiterer Mosaikstein in einer Saga, die von Unentschlossenheit, Inkompetenz und Feigheit erzählt.
„Badische Neueste Nachrichten“: Mit der eiligen Verschiebung einer mächtig aufgeheizten Debatte über das EU-Austrittsabkommen erspart sich Theresa May einen demütigenden politischen Knock-out. Und zieht damit nur ihre Brexit-Agonie in die Länge. Die britische Premierministerin hofft darauf, die wachsende Schar ihrer Kritiker daheim zu zermürben. Gleichzeitig will sie Druck auf Brüssel erzeugen, während die knappe Zeit bis zum Austritt des Königreichs im März 2019 verrinnt. Das Kalkül in Downing Street 10 ist, dass die Rest-EU den Briten zum Schluss ihren Abschied mit ein paar Bonbons versüßt, um einen komplett ungeregelten Brexit zu vermeiden. Es spricht heute jedoch nichts dafür, dass Mays Annahmen korrekt wären. Ein zweites EU-Referendum, ein Zurückweichen vom Brexit? Dies wäre die beste Lösung, allerdings auch eine Kröte für die stolze Inselnation, die dann eingestehen müsste, seit 2016 einen dummen Unabhängigkeitstraum verfolgt zu haben, während um sie herum die Alarmsirenen heulten. Dass die britische Politik-Elite diese Kröte schluckt, scheint heute noch eher unwahrscheinlich.
„Schwäbische Zeitung“: In London herrscht totale Uneinigkeit. Die Brexit-Ultras um Boris Johnson und Jacob Rees-Mogg wollen Ende März ohne jeden Deal ausscheiden; dies hätte für die Wirtschaft auf dem Kontinent und in Irland schlimme, für die Briten selbst katastrophale Folgen. Die EU-Freunde – Liberaldemokraten, schottische und walisische Nationalisten, große Teile von Labour, ein kleines Häuflein Konservative – streben das zweite Referendum und damit die Umkehr der 52:48-Entscheidung an. Und die politische Mitte beider großen Parteien verharrt in den parteipolitischen Schützengräben. Zuletzt wurde eines immer klarer: May hat im Parlament kaum noch Rückhalt. Die Verschiebung der Brexit-Abstimmung im Unterhaus stellt deshalb einen Verzweiflungsakt dar. Wenn sie vom EU-Gipfel diese Woche keine neuen Zugeständnisse mitbringt, wofür fast nichts spricht, hat eine Neuansetzung des Votums kaum noch Sinn. Der mühsam ausgehandelte Kompromiss wäre obsolet – und May politisch am Ende.
„Badische Zeitung“: Das Datum des Brexit rückt näher, eine Lösung für die Härten des Scheidungsvertrages ist nicht in Sicht. Dafür zeichnet sich immer klarer ab, was im Fall einer wilden Trennung ausbricht: politisches und wirtschaftliches Tohuwabohu. Wer glaubt, angesichts solcher Aussichten müsse eine Abkehr vom Brexit doch noch möglich sein, dürfte sich täuschen. Ein zweites Referendum könnte ausgehen wie das erste: gegen die EU. Seit dem Volksentscheid haben sich weder Brexiteers noch EU-Befürworter in Großbritannien mit Ruhm bekleckert. Das hat oft Frust produziert, selten Überzeugungen korrigiert. Und die zarte Hoffnung, London brauche bloß still und leise den Austrittsantrag zurückzuziehen, wie es der Europäische Gerichtshof eben nahegelegt hat, und dann sei alles wieder gut? Es ist eine schöne Idee – zu schön, um wahr zu werden. Die Realität sieht anders aus.
„Mitteldeutsche Zeitung“: Nun ist wenig wahrscheinlich, dass das britische Parlament tatsächlich den Brexit zurücknehmen wird. Aber die britische Premierministerin Theresa May hat nun ein gewaltiges innenpolitisches Druckmittel in die Hand bekommen. Auch wenn die Abstimmung im Unterhaus über den Austrittsvertrag verschoben ist, kann May mit Rückendeckung aus Luxemburg erklären: Entweder es gibt den Deal, so wie er ausgehandelt ist, oder keinen Brexit. Das könnte selbst hartnäckige Brexit-Vertreter beeindrucken.
Read more on Source