Um kurz nach sieben Uhr twitterte Junckers Kabinettschef Martin Selmayr ein Bild, auf dem weißer Rauch aufsteigt. Damit war endgültig bestätigt, was sich durchs Theresa Mays Ankunft einige Minuten zuvor im Berlaymont, dem Behördensitz der EU-Kommission, bereits angedeutet hatte: Der Deal zwischen Briten und der EU steht.
Kaum denkbar, dass sich May die Peinlichkeit einer zweiten Reise nach Brüssel innerhalb einer Woche angetan hätte, wenn nicht zwei Bedingungen erfüllt gewesen wären: Sie brauchte eine Einigung mit der nordirischen DUP, die ihre Regierung toleriert. Und die EU, allen voran Irland, musste die getroffene Vereinbarung gutheißen.
Damit kann nun Phase zwei der Brexit-Gespräche beginnen, die Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen zwischen der EU und den Briten. Ratspräsident Donald Tusk hat die Verhandlungsrichtlinien dafür bereits fertig formuliert, es wird erwartet, dass sie nun an die Mitgliedstaaten geschickt werden und sich die EU-Botschafter schon bald darüber beugen.
Beim EU-Gipfel Ende kommender Woche sollen die 27 EU-Staaten am Freitag dann zwei Entscheidungen treffen: Zum einen sollen sie bestätigen, dass es bei den Gesprächen „ausreichenden Fortschritt“ gibt, um in Phase zwei einzusteigen. In einem zweiten Schritt solle sie die neuen Verhandlungsleitlinien durchwinken.
Einfacher dürften die Gespräche aber nicht werden – im Gegenteil. Denn wichtige Fragen wurden keineswegs gelöst, sondern in die zweite Phase der Verhandlungen verschoben.
Das betrifft etwa die schwierigste Frage, die der Grenze zwischen Irland und Nordirland. In der 15-seitigen Erklärung der EU und Großbritanniens ist eine „Garantie“ der britischen Regierung festgeschrieben, dass es zwischen Irland und Nordirland keine neue harte Grenze mit Personen- und Zollkontrollen geben wird. Auch soll es eine „vollständige Übereinstimmung“ („full alignment“) zwischen Irland und Nordirland bei jenen Regeln des EU-Binnenmarkts und der Zollunion geben, welche die Zusammenarbeit zwischen beiden Inselteilen, die Wirtschaft auf der Insel und das Karfreitagsabkommen von 1998 betreffen.
Allerdings: Wie das gehen soll, ist weiterhin unklar. Im Fall von Schwierigkeiten werde London „spezifische Lösungen“ in der zweiten Phase der Verhandlungen vorschlagen, heißt es in der Erklärung lediglich. Sollte es zu keiner Einigung kommen, sei Großbritannien verpflichtet, die „vollständige Übereinstimmung“ der Regeln in Irland und Nordirland weiterhin zu achten. Damit hat sich Dublin auf ganzer Linie durchgesetzt.
Doch der Ärger ist schon programmiert. Denn die einzige gangbare Lösung der Irland-Frage ist nach Meinung der meisten Beobachter, dass Nordirland einen Sonderstatus erhält und praktisch innerhalb von EU-Binnenmarkt und Zollunion bleibt. Die Grenze zwischen der EU und Großbritannien verschöbe sich dann quasi auf die Irische See – was aber die Unionisten der DUP strikt ablehnen. Noch am Montag hatten sie deshalb eine Einigung zwischen May und EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker in letzter Minute torpediert.
Zwar habe es seitdem einen „substanziellen Fortschritt“ an dem Text gegeben, sagte DUP-Chefin Arlene Foster dem Nachrichtensender Sky News. Aber es gebe Dinge, die noch geklärt werden mussten. „Uns ist die Zeit ausgegangen“, sagte Foster. EU-Chefunterhändler Michel Barnier ahnt bereits, was nun droht: „Niemand“, sagte er am Donnerstag in Brüssel, „sollte die Schwierigkeiten unterschätzen, die wir mit diesem Thema noch haben werden.“
In der Frage der Bürgerrechte wiederum kann London zumindest eine gesichtswahrende Lösung vermelden: Der Europäische Gerichtshof wird nicht, wie von der EU ursprünglich gefordert, das letzte Wort in Streitfällen haben. Zwar werden alle britischen und EU-Bürger weiterhin dort leben und arbeiten dürfen, wo sie es vor dem Brexit getan haben, sagte Barnier. Auch hätten sie weiterhin Zugang etwa zur Gesundheitsversorgung.
Die entsprechenden Rechte würden ins finale Austrittsabkommen eingehen, das wiederum Teil des britischen Gesetzes werde. Dieser Punkt war den EU-Unterhändlern entscheidend, denn dann können die Briten die Bürgerrechte nicht mehr in Zukunft einseitig beschneiden. Daher kann die EU nun damit leben, dass in Streitfällen dann britische Gerichte zuständig sein sollen. Sie müssten die Rechtsprechung des EuGH lediglich „berücksichtigen“ und könnten den Luxemburger Gerichtshof um vorläufige Urteile bitten – aber nur, wenn sie wollen.
Was die finanziellen Verpflichtungen Londons betrifft, haben sich beide Seiten wie erwartet auf eine Methodologie zur Berechnung einer Summe geeinigt. Großbritannien wird demnach zunächst weiter seine Beiträge für den EU-Haushalt der Jahre 2019 und 2020 zahlen, so als ob es weiterhin Mitglied wäre. Zudem muss die britische Regierung auch Anteile an langfristigen finanziellen Verpflichtungen der EU tragen, über die vor dem Austritt am 29. März 2019 entschieden wurde. Welche genaue Summe sich daraus ergeben wird, ist noch unklar. Es gilt aber als wahrscheinlich, dass es um eine Abschlussrechnung von etwa 55 Milliarden Euro geht.
EU drohen Risse
„Die schwierigste Herausforderung steht noch bevor“, warnte EU-Ratspräsident Donald Tusk nach der Einigung. Die EU brauche nun „mehr Klarheit“ bezüglich der britischen Vorstellungen über die künftigen Beziehungen. Allerdings könnten sich auch auf Seiten der EU demnächst Risse auftun.
Verhandler erwarten, dass die bislang überraschend klare Einigkeit der EU-27 stärker auf die Probe gestellt wird, wenn es um Spezialinteressen bei den künftigen Beziehungen geht. Zum anderen machen führende Europaparlamentarier bereits Druck, die Verhandlungen über die künftigen Beziehungen nun rasch zu einem Abschluss zu bringen. „Es darf ab Januar kein Zurücklehnen geben“, sagt der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei im Europaparlament Manfred Weber (CSU). Seine Befürchtung: Die Briten könnten es sich in der Übergangsperiode, in der sie noch von allen EU-Regeln profitierten, so gemütlich einrichten, dass die Verhandlungen ohne große Ambitionen vor sich hindümpeln.
Doch das sind Fragen der Zukunft. „Wir wollen jetzt die positiven Seiten unserer künftigen Beziehungen diskutieren“, sagte May am Donnerstagmorgen. Einer Nachfrage, ob sie den Brexit inzwischen für eine schlechte Idee halte, wich sie allerdings aus.
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