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Auf den Fluren von EU-Kommission und Europaparlament herrscht eine gewisse Ratlosigkeit, wenn die Sprache auf die Brexit-Verhandlungen kommt. Die Gespräche kommen seit Wochen nicht vom Fleck, während der Termin des Austritts – der 29. März 2019 – gnadenlos näher rückt.
Wieder und wieder habe man versucht, London die eigenen Standpunkte zu verdeutlichen. „Doch die Briten halten das offenbar immer noch für einen Bluff“, heißt es etwa aus der christdemokratischen EVP-Fraktion im Europaparlament. Um Mittelpunkt steht der Streit um die vier Grundfreiheiten – der freie Verkehr von Waren, Geld, Dienstleistungen und Personen. Sie sind unteilbar, das hat die EU von Beginn an betont. Wollten die Briten nach dem Brexit keine Einwanderer mehr aus der EU, würden sie auch den Zugang zu deren Binnenmarkt verlieren. Man werde nicht zulassen, dass die Briten sich die Rosinen aus dem Kuchen picken.
Doch London versucht immer wieder genau das. Bei der restlichen EU sorgte das zuerst für Verwunderung, dann für wachsendes Befremden. Inzwischen macht sich Alarmstimmung breit: Sollten die Briten nicht langsam zu Sinnen kommen, so die Befürchtung, könnte es tatsächlich einen Austritt ohne Abkommen geben. „Eine Chance von 50 Prozent“ sieht etwa der CDU-Außenpolitiker Elmar Brok mittlerweile für dieses Worst-Case-Szenario, das insbesondere für Großbritannien einem wirtschaftlichen Desaster gleichkommen könnte. Zwar setzen andere Parlamentarier die Gefahr deutlich niedriger an – doch für ausgeschlossen hält den Chaos-Brexit kaum noch jemand.
Vorbereitungen auf ungeordneten Brexit
Britischer Brexit-Minister David Davis in Brüssel
Im EU-Parlament laufen bereits konkrete Vorbereitungen. So hat die EVP mit Unterstützung anderer Fraktionen eine Änderung des CO2-Emissionshandels beantragt – aufgrund der „steigenden Gefahr“, dass die Verhandlungen mit London scheitern. Britische Unternehmen sollen demnach Emissionshandels-Zertifikate, die sie kostenlos bekommen haben, nach dem Brexit nicht mehr einlösen können. Wer keine Pflichten mehr erfüllen müsse, so das Argument, der dürfe auch keine Vorteile mehr genießen. In London herrschten „unrealistische Vorstellungen bezüglich eines möglichen Deals“, erklärt Peter Liese, umweltpolitischer Sprecher der EVP-Fraktion. „Deshalb bereiten wir uns auch auf einen harten Brexit vor.“
Die EU-Kommission soll den Antrag, über den das Parlament am Mittwoch abstimmen soll, dem Vernehmen nach unterstützt oder gar angeregt haben – denn auch bei ihr wächst die Furcht vor einem ungeordneten Brexit. Die kommenden zwei Monate, heißt es aus der Brüsseler Behörde, seien entscheidend. Am 18. September soll die nächste Verhandlungsrunde mit den Briten beginnen, es wird auch schon über eine Verschiebung um eine Woche nachgedacht. Im Oktober sollte EU-Chefunterhändler Michel Barnier eigentlich „ausreichende Fortschritte“ bei der ersten Phase der Verhandlungen feststellen, um mit den Gesprächen über die zukünftigen Beziehungen beginnen zu können.
Doch das erscheint zunehmend unwahrscheinlich. „Ich sehe nicht, wie der Oktober-Termin eingehalten werden soll“, meint Brok. Auch der Liberale Guy Verhofstadt, Brexit-Verhandlungsführer des EU-Parlaments, erklärte am Dienstag, dass „keine ausreichenden Fortschritte erzielt“ worden seien. Denn bei den drei Fragen, die in Phase eins geklärt werden sollen, gibt es nach wie vor kaum Fortschritte:
- Zu ihren finanziellen Verpflichtungen hat die britische Regierung noch keinen konkreten Vorschlag vorgelegt. In Brüssel schätzt man, dass London nach dem Austritt zwischen 40 und 100 Milliarden Euro überweisen muss, um bereits eingegangene Vereinbarungen zu erfüllen.
- Die britischen Vorschläge zur Zukunft Irlands und Nordirlands hat EU-Mann Barnier bereits als unzureichend zurückgewiesen.
- Auch Londons Ideen zur Frage der Einwanderung sowie der künftigen Rechte von EU-Bürgern in Großbritannien und von Briten in der EU findet die restliche EU bislang nicht zufriedenstellend. Für Ärger sorgte zuletzt ein internes Papier des britischen Innenministeriums, laut dem die britische Regierung die Einwanderung von EU-Bürgern direkt nach dem Brexit massiv einschränken will. „Das würde das Misstrauen dramatisch erhöhen, sollte es die Regierungspolitik widerspiegeln“, meint Brok.
Die Regierung in London aber scheint auch nach Ansicht britischer Kommentatoren nach wie vor der Ansicht zu sein, dass irgendwie schon alles gut ausgehen werde – weil ein guter Deal für Großbritannien auch im Interesse der restlichen EU sei. Damit aber, hieß es etwa neulich im „Guardian“, liege London „hoffnungslos und katastrophal falsch“.
Juncker ein „Cognac-getränkter Clown“, Barnier ein „aufgeblasener Dandy“
Londons Pro-Brexit-Presse sieht das ganz anders. Ein „Cognac-getränkter Clown“ (gemeint war Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker) und ein „aufgeblasener Dandy“ (Chefunterhändler Barnier) stünden einem guten Brexit-Deal im Weg, schrieb kürzlich die „Sun“. Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron müssten dieses Spiel beenden, unter tatkräftiger Mithilfe deutscher Großunternehmen. Die „Sun“ hat den Kommentar deshalb gar auf Deutsch veröffentlicht – oder besser: Sie hat es versucht. Die deutsche Industrie aber denkt bisher gar nicht daran, die Botschaft zu erhören. „Sie ist sich längst einig“, meint CDU-Mann Liese, „dass der Zusammenhalt des EU-Binnenmarkts langfristig bei weitem wichtiger sei als das Geschäft mit Großbritannien.“
Doch die Regierung in London hat nach Meinung des britischen Labour-Europaabgeordneten Seb Dance „nicht einmal ansatzweise begriffen, welche Folgen der Brexit haben wird.“ Das Gleiche gelte für große Teile der Bevölkerung: „Die meisten Menschen haben keine Ahnung, was auf sie zukommt.“ Stattdessen glaubten sie der Behauptung der Regierung, alles werde gut. „Und es gibt keinen Sicherheitsmechanismus“, so Dance, „der einen Chaos-Brexit verhindern könnte.“
Im Europaparlament hat man indes die Hoffnung, die Briten doch noch wachrütteln zu können, noch nicht ganz aufgegeben. Am 4. Oktober wird Premierministerin Theresa May bei einer Tory-Konferenz in Manchester voraussichtlich eine weitere Brexit-Rede halten. Im EU-Parlament gibt es Pläne, am Tag zuvor mit einer Resolution die bisherige EU-Verhandlungslinie zu unterstützen – „um den Briten klarzumachen“, meint Brok, „dass wir bei unserer Linie bleiben“.
Zusammengefasst: Die britische Regierung scheint noch immer Erwartungen an den Brexit-Deal zu haben, die in der restlichen EU als vollkommen unrealistisch gelten. Beteuerungen der EU, sie meine es ernst, gelten vielen in London als bloße Verhandlungstaktik. In Brüssel und Straßburg löst das Sorgen aus: Die Gefahr eines Scheiterns der Verhandlungen wächst.
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