Xi Jinping schweigt. Die chinesische Sonderverwaltungszone Hongkong wird nun schon in der zehnten Woche von massiven Protesten und Polizeigewalt erschüttert. Doch von Chinas Staats- und Parteichef kam noch kein öffentliches Wort über die Lage in der Stadt. (Lesen Sie hier mehr zu den Hintergründen)
Das ist nicht so ungewöhnlich, wie es aus westlicher Perspektive erscheinen mag: Chinas autoritäre Führung pflegt sich nicht öffentlich zu rechtfertigen. Als Xi bei einem Staatsbesuch in Deutschland 2014 nach einer Rede zwei Fragen zuließ, galt das als kleine Sensation. Das waren jedoch weit ruhigere Zeiten. In Krisensituationen macht Peking die Schotten erst recht dicht.
So dürfte Xi auch Donald Trumps jüngsten Ratschlag an sich vorbeiziehen lassen. Der US-Präsident hatte ihm am Donnerstag per Twitter ans Herz gelegt, er möge sich doch mit den Demonstranten treffen. In einem persönlichen Austausch werde „das Hongkong-Problem“ sicher ein „glückliches und erleuchtetes Ende“ finden.
Die Gedanken von Xi genießen Verfassungsrang
Dieser ungebetene Ratschlag verkennt nicht nur völlig die Lage in Hongkong und die Dynamik des Protests – sondern auch, wie in der Volksrepublik politische Probleme gehandhabt werden.
Weil Xi öffentlich nichts dazu sagt, wie er wieder Herr der Lage werden will, muss man sich dieser Frage aus einer anderen Perspektive nähern:
- Seit er 2012 Generalsekretär der Kommunistischen Partei und im Folgejahr Staatspräsident wurde, hat er sämtliche politische Gegenspieler ins Abseits gedrängt.
- Eine wohl sechsstellige Zahl von Kadern, Provinzfürsten und Ministern wurde aus ihren Ämtern entfernt, zum Teil landeten sie im Gefängnis.
- Sogar ein früheres Mitglied des Ständigen Ausschusses des Politbüros, des innersten Machtzirkels, wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.
Heute gilt Xi als Chinas mächtigste Führer seit Mao Zedong. Seit dem Parteitag 2017 genießen seine Gedanken Verfassungsrang. Partei und Staatsapparat sind völlig auf ihn ausgerichtet.
Das Ende der Geduld hat ein Datum – den 1. Oktober
Aus Pekinger Sicht gefährdet die Krise in Hongkong die Souveränität und territoriale Integrität des Landes. (Lesen Sie hier mehr zu den historischen Hintergründen) In einer solchen Lage darf man davon ausgehen, dass niemand anders als die oberste Spitze die Antwort darauf festlegt. Die unteren Ebenen erfüllen diese Vorgaben nur. Was sie sagen, sind keine institutionelle Einzelmeinungen. Es ist die offizielle Sprachregelung.
In den letzten Tagen haben Staatsmedien, das Pekinger Büro für Hongkong-Angelegenheiten oder das Verbindungsbüro der Volksrepublik in Hongkong von „Chaos“ gesprochen, das in der Stadt herrsche. Zuletzt rückten sie die Protestbewegung gar in die Nähe von „Terroristen“.
Es ist kaum misszuverstehen: China – und das heißt Xi – will die Proteste so schnell wie nur irgend möglich beendet sehen. Allerdings steckt der chinesische Führer in einem Dilemma: Er wird sich wohl nicht all der Mittel bedienen können, die ihm zur Verfügung stehen.
Für das ultimative Ende seiner Geduld gibt es sogar ein Datum. Am 1. Oktober jährt sich die Gründung der Volksrepublik zum 70. Mal. Es ist das erste runde Staatsjubiläum, seit Xi an der Macht ist. Ein wichtiger Meilenstein, an dem Maß genommen wird, wie weit das Land gekommen ist – und wer es dorthin geführt hat.
Eine militärische Intervention hätte gravierende wirtschaftliche Folgen
Vor einigen Jahren schon hat Xi seine Vision vorgestellt, die er als den „Chinesischen Traum“ bezeichnete: ein starkes und wohlhabendes Land, eine nationale Renaissance und eine glückliche Bevölkerung. Andauernde Proteste in Hongkong würden diesem Bild gleich in mehrerlei Hinsicht widersprechen. Allein schon mit Blick auf den geplanten Festakt drängt aus seiner Perspektive also die Zeit, um Hongkong unter Kontrolle zu bringen.
Bloß wie? Ein brutales Durchgreifen unter Beteiligung des chinesischen Militärs, über das in den letzten Tagen immer lauter spekuliert wird, würde nicht nur großen wirtschaftlichen Schaden anrichten. Für viele ausländische Unternehmen dient Hongkong wegen seiner rechtlichen Sonderstellung als Einfallstor zum chinesischen Markt; über die Hongkonger Börse nehmen chinesische Konzerne einen Großteil des ausländischen Kapitals auf. Sollte ein Militäreinsatz die garantierten Sonderrechte der ehemaligen britischen Kronkolonie außer Kraft setzen, würde das zwangsläufig zu einem wirtschaftlichen Absturz führen.
Darüber hinaus würden Bilder von Soldaten der Volksbefreiungsarmee auf Hongkongs Straßen Xi zum internationalen Paria machen. In den Augen der Welt würde er dann am 1. Oktober nicht über eine strahlende neue Weltmacht präsidieren, die einen bewundernswerten Aufstieg hingelegt hat, sondern über ein brutales, diktatorisches Regime, das seine Maske hat fallen lassen. Das würde umso mehr gelten, käme es zu einem Massaker, das dem auf dem Pekinger Tiananmen-Platz 1989 gliche.
Repressionen statt Militäreinsatz als Mittel der Wahl
Vor diesem Hintergrund ist es wahrscheinlicher, dass es zu verstärkten Repressionen kommt, die unterhalb der Schwelle eines chinesischen Militäreinsatzes bleiben:
- Die in der eigenen Bevölkerung völlig diskreditierte Carrie Lam ist Hongkonger Regierungschefin von Pekings Gnaden; kaum vorzustellen, dass sie sich Wünschen nach noch härteren Polizeieinsätzen entgegenstemmt.
- Auch Schlägertrupps aus dem Dunstkreis pekingtreuer Triaden könnten die Demonstranten zusammenprügeln, wie es vor drei Wochen bereits in der U-Bahn-Station von Yuen Long geschehen ist.
- Der friedliche Teil der Protestbewegung würde verschreckt zu Hause bleiben, die gewaltbereite Minderheit ließe sich einfacher isolieren.
- Sicher setzt die chinesische Führung auch darauf, dass viele der jungen Demonstranten von den Straßen verschwinden, wenn Ende August die Schule wieder losgeht.
Womöglich wird Xi Jinping am 1. Oktober das Wort ergreifen, um zum Staatsjubiläum eine Rede an die Nation zu richten. Er wird alles daransetzen, dass es keine Rede eines Gedemütigten wird.
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