Immer mehr Details zum Attentat in einem LGBTQ-Club in den USA werden bekannt. Die Abgründe des Täters wirken verstörend und schrecken die Gemeinschaft auf.Fünf Menschen sind tot. Mindestens 18 teils schwer verletzt. Was in Colorado Springs am Wochenende in einem LGBTQ-Club geschehen ist, rüttelt die USA auf, ganz besonders die queere Community. Denn je mehr über die Hintergründe des Täters ans Licht kommt, desto verstörender und bedrohlicher wirkt die Tat von Anderson Lee Aldrich.Mit einem Gewehr bewaffnet stürmte der 22-Jährige am vergangenen Samstag in den „Club Q“ und erschoss Menschen. Weil unter anderem ein anwesender Armee-Veteran und eine Dragqueen ihr Leben riskierten und eingriffen, konnte Anderson Lee Aldrich noch vor dem Eintreffen der Polizei überwältigt werden.Seither schweigt Aldrich zu seiner Tat. Die Verhältnisse, aus denen er stammt, und seine Vergangenheit geben Einblicke in ein Weltbild, vor dem Schwule, Lesben und Transgender in den USA seit vielen Jahren und immer eindringlicher warnen.Eine zerrüttete FamilieDas Verhältnis von Aldrich zu seinen Eltern soll schwer belastet sein. Aufgewachsen sein soll er teilweise bei seiner Großmutter. Er habe seinen Sohn seit vielen Jahren nicht gesehen, sagte Aaron Brink, Aldrichs leiblicher Vater, dem amerikanischen Fernsehsender CBS. „Ich dachte, er hat Selbstmord begangen.“ Was Brink dann sagt, ist so verstörend, dass sich nur erahnen lässt, wie tief die Abgründe in dieser Familie liegen müssen.Nach der Tat seines Sohnes gefragt erzählt der sichtlich labile Vater: „Sie haben angefangen, mir von dem Vorfall zu erzählen, von einer Schießerei … und dann finde ich heraus, dass es eine Schwulenbar ist. Ich bekam Angst: ‚Scheiße, ist er schwul?'“ Dann habe er verstanden, dass sein Sohn nicht schwul sei. „Also sagte ich: Puh!“ Er selbst sei „konservativer Republikaner“, lallt Brink in die Kamera.Der Kontakt mit seinem Sohn scheint kaum noch vorhanden gewesen zu sein. Im Jahr 2016 ließ Anderson Lee Aldrich seinen bisherigen Namen Nick Brink ändern. Dieser hatte ihn mit seinem Vater verbunden. Aaron Brink landete als Jugendlicher selbst wegen Drogen im Gefängnis, arbeitete später als Pornodarsteller mit dem Namen „Dick Delaware“ und hatte überschaubaren Erfolg als „Mixed Martial Arts“-Kämpfer.Was Anderson Lee Aldrichs Motive waren, müssen die Ermittlungen zeigen. Gruppenbezogener Menschenhass liegt als Motiv nahe. Was für viele überraschend war, ist eine Nachricht von Aldrichs Anwälten. In einer ersten Gerichtsanhörung gaben sie zu Protokoll, ihr Mandant würde sich selbst als eine „nicht-binäre Person“ bezeichnen. Aldrich würde sich also weder in die Geschlechtskategorie Mann noch Frau einordnen.Ignorierte AuffälligkeitenUnabhängig davon, was ihn zu seiner Tat in Colorado Springs motivierte: Wie gefährlich Anderson Lee Aldrich ist, hätte spätestens nach einem Polizeieinsatz im vergangenen Jahr klar sein müssen. Es war der 18. Juni 2021, als im Bezirk El Paso County im Bundesstaat Colorado Teile der Gemeinde Lorson Ranch evakuiert wurden.Laura Voepel, die leibliche Mutter von Anderson Lee Aldrich und wegen Brandstiftung ebenfalls aktenkundig, hatte damals bei der Polizei angerufen. Ihr eigener Sohn würde sie mit einer selbstgebauten Bombe und mehreren Waffen bedrohen. Der damals 21-jährige Aldrich weigerte sich zunächst, sich der Polizei zu ergeben, gab dann aber auf. Eine Bombe wurde nicht gefunden. Aldrich bekam eine Anzeige wegen Gewaltandrohungen und Entführung.Der Vorgang kam dann zu den Akten. In Hintergrundchecks beim Waffenkauf tauchte sein auffälliges Verhalten deshalb nicht auf. Colorado verabschiedete im Jahr 2019 eigentlich ein sogenanntes „Red Flag Law“, ein Gesetz, das labilen Personen den Zugang zu Schusswaffen verwehren soll. Was hier schiefgelaufen ist, wird derzeit ermittelt.Über Aldrichs Großvater, Randy Voepel, wurde unterdessen bekannt, dass er Republikaner und Trump-Anhänger ist. Der 72-Jährige sitzt bislang noch als Abgeordneter im Unterhaus von Kalifornien, er hat seine Wiederwahl bei den Midterms aber verloren. Über den Sturm auf das Kapitol in Washington am 6. Januar 2021 sagte er einst: „Nach der Vereidigung Bidens am 20. Januar wird Tyrannei folgen.“ Später versuchte er, sich von diesen Aussagen zu distanzieren.Zum Attentat in Colorado Springs will er sich nach US-Medienberichten nicht äußern. Er soll seither aber Todesdrohungen erhalten haben und gibt an, seit fast zehn Jahren keinen Kontakt zu seinem Enkel gehabt zu haben. Abgründe in grauenhaften Internet-ForenWie viele andere Attentäter, die ähnlich wie er vorgegangen sind, hat sich auch Anderson Lee Aldrich in gewaltverherrlichenden Foren im Internet herumgetrieben. Dort war er offenbar zeitweise selbst brutalem Cyber-Mobbing ausgesetzt. Eines dieser Foren etwa feiert „erfolgreiche Attentäter“ als Helden, bezeichnet unter anderem das Ermorden von Schwulen als ein „Werk Gottes“ und ist durchsetzt von antisemitischem Hass.Aldrich wurde dort offenbar schon seit Jahren als „fett und pädophil“ beschimpft. Diese Webseite führt Anderson Lee Aldrich seit seiner Tat in einer menschenverachtenden Liste „bemerkenswerter Verlierer“ inzwischen auf „Platz 168“. Weil Aldrich nicht genug Menschen umgebracht habe, und ausgerechnet von einer Person aus der LGBTQ-Community zur Strecke gebracht wurde, sei er ein Verlierer. Auf einer weiteren „High Score“-Liste führen die Hinterleute des Forums „erfolgreiche Attentäter“. Dort steht auf Platz 1 der Name des norwegischen Massenmörders Anders Behring Breivik.Eindringliche Warnungen vor zunehmender GewaltWeil Anderson Lee Aldrich zu keiner Aussage bereit war, kann die Motivlage des Attentats von Colorado Springs noch nicht abschließend beurteilt werden. Die LGBTQ-Community in den USA aber wurde nach dem Massenmord von Orlando im Club Pulse im Jahr 2016 einmal mehr das Ziel. Der Hass gegen Schwule, Lesben und trans Personen wird gesellschaftlich, aber auch politisch geschürt.Dem Attentäter von Colorado Springs fielen nicht nur Menschen zum Opfer. Die Morde legen auch schonungslos offen, welche gesellschaftlichen Gräben vor dem Hintergrund des sogenannten Kulturkampfes in den USA in den vergangenen Jahren entstanden sind und wie gewaltbereit die Gegner sind.In einem soeben veröffentlichten Bericht der Nicht-Regierungsorganisation „Gay and Lesbian Alliance Against Defamation“ (GLAAD) kam es in den USA allein im Jahr 2022 in 47 Bundesstaaten zu 124 Vorfällen von „Anti-LGBTQ-Protesten und Drohungen“, die auf besonders auf Dragqueen-Events abzielten. Die Analyse weist zudem auf eine im Verlauf dieses Jahres zunehmende gewalttätige Rhetorik hin und auf Gesetzesvorschläge in mehreren Bundesstaaten, die etwa Drag-Shows verbieten sollen.Einen eindringlichen Appell richtete sich zuletzt anlässlich der Morde in Colorado Springs einer der Überlebenden des Orlando-Attentats in einem Fernsehinterview an die Öffentlichkeit. Brandon Wolf, der für die politische Interessenvertretung „Equality Florida“ arbeitet, griff in einem Fernsehinterview bei MSNBC namentlich die Gouverneure von Florida und Texas an, Ron DeSantis und Greg Abbott. Diese Politiker hätten eine „verrückte und hasserfüllte Rhetorik gegen LGBTQ-Menschen“ und die „ältesten und dunkelsten Metaphern gegen unsere Gemeinschaft“ verbreitet. Es ist ein Hilferuf.Ängste werden nicht nur in Texas und Florida, sondern in vielen Bundesstaaten insbesondere bei Eltern geschürt. Homo- oder Transsexuelle gelten als Gefährder des Kindeswohls. Thematisiert werden diese Neigungen nicht als gleichwertig zur Heterosexualität unter dem Aspekt Liebe, sondern als pervers, pornografisch und nicht normal.Und es gibt Menschen, wie in den Foren, in denen sich Anderson Lee Aldrich herumgetrieben hat, die sich davon in ihrem Denken bestätigt fühlen und die ihm applaudieren für das, was er getan hat. Und die ihn zugleich dafür verachten, dass er nicht noch mehr Menschen getötet hat.
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