Über die Avinguda del Portal de l’Àngel, eine der zentralen Einkaufsstraßen in Barcelona, schieben sich die Menschenmassen. Vor den Bars und Cafés stehen Grüppchen und lassen sich eine ungewöhnlich warme Wintersonne ins Gesicht scheinen – beziehungsweise auf das, was der Mund-Nasen-Schutz frei lässt. Weil in Spanien die Heiligen Drei Könige die Weihnachtsgeschenke bringen, sind die ersten Januartage Hochsaison für den Einzelhandel, entsprechend voll sind die Straßen. Von der Pandemie ist wenig zu spüren.
Dabei befinden sich die Infektionszahlen auf Rekordniveau: 638.832 Menschen haben sich in den letzten sieben Tagen mit dem Coronavirus infiziert, die Sieben-Tage-Inzidenz liegt bei 1.348 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner. Es gibt in Spanien derzeit wohl kaum jemanden, der keinen Positivfall in der Familie hat.
Doch das Leben geht weiter. Zwar sind vielerorts Diskotheken und Clubs geschlossen, in Restaurants muss man den Impfausweis vorzeigen, Maske ist nicht nur in Innenräumen, sondern auch draußen Pflicht. Doch über strengere Maßnahmen, gar einen erneuten Lockdown, wird nicht diskutiert. „Wir müssen mit dem Virus leben“, sagte Premier Pedro Sánchez kurz vor Jahresende und forderte ein „Gleichgewicht“ zwischen Gesundheit und Wirtschaft.
Mitten im Omikron-Tsunami, der über Spanien rollt, haben die Gesundheitsbehörden sogar die Auflagen gelockert: Wer am Coronavirus erkrankt, muss künftig nicht mehr zehn, sondern nur noch sieben Tage in Quarantäne. Vollständig Geimpfte, die Direktkontakt zu Positiven haben, können weiter ein ganz normales Leben führen – und das, obwohl die Infektionszahlen auch bei Geimpften und Genesenen hoch sind. Also Augen zu und durch?
90,3 Prozent sind doppelt geimpft
Tatsächlich sind die Lockerungen vor allem wirtschaftspolitischen Überlegungen geschuldet. Der omikronbedingte Krankenstand war teils so hoch, dass man in manchen Städten um die Grundversorgung fürchtete: Wie sollte man ohne Ärztinnen, Lehrer, Busfahrerinnen und Supermarktkassierer ins neue Jahr starten?
Das „Leben mit dem Virus“ möglich machen könnte die hohe Impfquote in Spanien. 90,3 Prozent aller über Zwölfjährigen sind doppelt geimpft, 28,8 Prozent aller Kinder zwischen fünf und elf Jahren haben die erste Dosis erhalten. Auch die Boosterimpfungen nehmen immer weiter zu.
Laut Gesundheitsministerium sind in Spanien derzeit etwas über zehn Prozent der Krankenhausbetten und 21,2 Prozent der Intensivbetten mit Covid-19-Patientinnen belegt. Das sind etwa so viele wie zur gleichen Zeit im letzten Jahr, zu Beginn der Impfkampagne. Doch setzt man die Infektionszahlen ins Verhältnis zur Belegung der Krankenhäuser, zeigt sich, dass die sechste Welle in Spanien milder verläuft als ihre Vorgängerinnen: Die 14-Tage-Inzidenz ist derzeit fast neunmal so hoch wie im Vorjahr. Fast alle Patienten, die intensivmedizinisch behandelt werden müssen, sind unvollständig oder gar nicht geimpft – oder leiden unter Vorerkrankungen.
Grund zur Entwarnung sehen Spaniens Gesundheitsexperten dennoch nicht. Denn den Ärztinnen und Krankenpflegern, die schon seit fast zwei Jahren am Anschlag arbeiten, nutzen solche Rechenübungen wenig. Ihr Arbeitsvolumen ist das gleiche. Und auch sie werden krank oder müssen in Quarantäne. In Navarra, der Region mit der höchsten Inzidenz, wurde Gesundheitsfachkräften wegen Engpässen bereits der Weihnachtsurlaub gestrichen. Auch in den Krankenhäusern und Gesundheitszentren im Baskenland und in Aragón prüft die Personalabteilung inzwischen jeden Urlaubsantrag genau. In Katalonien versucht man, die Gesundheitszentren zu entlasten, indem positive Ergebnisse von heimischen Schnelltests künftig nicht mehr durch einen offiziellen PCR-Test bestätigt werden müssen. Es reicht, wenn der oder die Infizierte den Fall in der Apotheke um die Ecke meldet.
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