Kadri Gürsel ahnte, was ihm bevorsteht. „Natürlich bin ich gefährdet“, sagte er bei einer deutsch-türkischen Medienkonferenz in Antalya Ende Oktober 2016. „Wir alle sind gefährdet.“
Wenige Tage später wurde Gürsel, Kolumnist der Tageszeitung „Cumhuriyet“ und Vorstandsmitglied des International Press Institute (IPI), verhaftet. Sicherheitskräfte brachten ihn in das Hochsicherheitsgefängnis in Silivri, bei Istanbul.
Fast neun Monate saß Gürsel in Untersuchungshaft. An diesem Montag schließlich beginnt in Istanbul der Prozess gegen ihn und 16 weitere Mitarbeiter der „Cumhuriyet“. Die türkische Justiz wirft Gürsel und seinen Kollegen vor, eine bewaffnete Terrororganisation unterstützt zu haben.
Beobachter aus dem In- und Ausland haben sich zu dem Prozessauftakt angekündigt. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International bereiten Aktionen vor. Auch in Berlin wollen Demonstranten für die Journalisten in der Türkei auf die Straße gehen.
150 Medienhäuser geschlossen, 160 Journalisten verhaftet
Die „Cumhuriyet“ gilt als eine der letzten unabhängigen Zeitungen in der Türkei. Sie wurde durch Berichte über Waffenlieferungen des türkischen Geheimdiensts MIT an islamistische Extremisten in Syrien weltweit berühmt. Ihr damaliger Chefredakteur Can Dündar musste für ein Jahr ins Gefängnis. Er lebt inzwischen im Exil in Berlin.
Mit den „Cumhuriyet“-Mitarbeitern, so sehen das viele Menschen in der Türkei, stehen nicht nur einige der wichtigsten Autoren des Landes vor Gericht – sondern Presse- und Meinungsfreiheit insgesamt.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat die Demokratie in der Türkei seit dem gescheiterten Putschversuch immer weiter abgebaut. 150 Medienhäuser wurden geschlossen, mehr als 160 Journalisten verhaftet – darunter die beiden Deutschen Mesale Tolu und Deniz Yücel. Inzwischen läuft jeder, der Erdogan widerspricht, Gefahr, als vermeintlicher Putschist oder Terrorist verfolgt zu werden.
Gürsels Kollege Ahmet Sik etwa galt als herausragender Investigativjournalist. Er enthüllte 2011 die Machenschaften des Islamisten-Predigers Fethullah Gülen, lange bevor sich dieser mit Erdogan überwarf. In dem Buch „Armee des Imams“ beschreibt er, wie Anhänger Gülens mithilfe der Regierung Erdogan staatliche Institutionen unterwandert, sich selbst bereichert und Gegner verfolgt haben. Das Manuskript wurde von der Polizei konfisziert, Sik für 13 Monate ins Gefängnis gesperrt.
Allgemeine, unspezifische Vorwürfe
Nun, sechs Jahre später, steht Sik erneut vor Gericht. Er soll, so lautete der anfängliche Vorwurf, in der „Cumhuriyet“ und auf Twitter Propaganda betrieben haben – unter anderem für Gülen, den Erdogan inzwischen als Staatsfeind betrachtet und hinter dem Putsch vom 15. Juli 2016 vermutet. Inzwischen heißt es, Sik habe die kurdische Terrororganisation PKK unterstützt. „Die Regierung bemüht sich noch nicht einmal mehr, den Anschein von Plausibilität und Rechtsstaatlichkeit zu wahren“, kritisiert Erol Önderoglu, Türkei-Vertreter der Organisation „Reporter ohne Grenzen“.
In der Anklageschrift werden weitgehend allgemeine, unspezifische Vorwürfe gegen die „Cumhuriyet“-Mitarbeiter erhoben. So heißt es, Gürsel habe sich verdächtig gemacht, indem er mit Personen kommunizierte, die der Gülen-Sekte nahestehen sollen. Außerdem wird ihm ein Artikel zur Last gelegt, in dem er behauptet, Erdogan geriere sich als „Vater“ der Türken.
Es ist offen, ob die Richter der Argumentation folgen. Oder ob sie die Beschuldigten doch freisprechen. In einem Rechtsstaat würden die Belege für eine Verurteilung niemals reichen. Doch die Türkei unter Erdogan ist längst kein Rechtsstaat mehr.
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