Jens Spahn provoziert gern. Sein jüngster Vorstoß: Der Rechtsstaat ist schwach. Selbst „die vernünftigen Sozialdemokraten“ sähen inzwischen einen massiven Vertrauensverlust in den Staat. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sekundiert: Linksextreme könnten mit zu viel Verständnis rechnen, sagt er. Berufsverbände und Fachleute pflichten ihm bei – aber nur ein Stück weit.

Werden „linke Chaoten eher geschützt als bestraft“, wie Dobrindt behauptet?

„Der Linksextremismus ist in Deutschland nach der vermeintlichen Niederschlagung der RAF ein Thema, das man außer Acht gelassen hat“, sagt die Kriminologin Rita Steffes-enn vom Zentrum für Kriminologie und Polizeiforschung in Kaiseresch. Auch der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, spricht von einem „speziell linken Problem“: „Man müsste sich mal vorstellen, Pegida würde irgendwo ein Haus besetzen. Da würde überhaupt nicht gezögert – richtigerweise – das Recht durchzusetzen.“

Oliver Malchow, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, meint hingegen, der Fokus auf autonome Rückzugsorte gehe am Thema vorbei. Es gehe beim Linksextremismus doch um einen „ganz kleinen Bereich“. „Das bedroht nicht die Bundesrepublik Deutschland“. Viel schlimmer sei, dass der Polizei die Ressourcen fehlten im Kampf gegen Alltags- und Wirtschaftskriminalität und organisiertes Verbrechen.

Werden eher Links- oder Rechtsextremisten straffällig?

Im direkten Vergleich liegen rechtsextremistische Straftaten deutlich vorn. Während Rechte nach der jüngsten Kriminalstatistik für das Jahr 2016 mehr als 23.500 Mal aus politischen Motiven Straftaten verübten, wurden etwa 9400 Fälle linksmotivierter Straftaten gezählt. 

Auch registrieren die Behörden bei Rechten einen steigenden Hang zur Gewalt. Um mehr als 14 Prozent nahm die Zahl politisch motivierter Gewalttaten hier zu, während die Zahl linksmotivierter Taten im Vergleich zum Vorjahr etwa um 24 Prozent sank. Für 2016 notiert das Bundesinnenministerium 1252 rechte gewalttätige Hassdelikte und 12 vergleichbare Taten aus dem linken Spektrum.

Nimmt die Kriminalität in Deutschland generell zu?

Sowohl in der kurzfristigen als auch in der langfristigen Betrachtung nimmt die Kriminalität in Deutschland eher ab. Die polizeiliche Kriminalstatistik spricht von einem Rückgang um 2,1 Prozent seit 2002. Doch nicht jede Tat wird zur Anzeige gebracht.

Spahn sagt, die Behörden seien sehr effizient bei der Zustellung von Steuerbescheiden, bei Drogendealern, „die zum zwanzigsten Mal erwischt werden“ schienen sie hingegen machtlos. Richtig?

So einfach ist das nicht, sagen Experten. „Die Verdächtigen, die wir festgenommen haben, sind schon wieder auf freiem Fuß, bevor wir die Anzeige geschrieben haben“, sagt Gewerkschafter Wendt. Kriminologin Steffes-enn meint hingegen: „Sie können hohe Haftstrafen verhängen bei Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz. Das ist definitiv nicht das Problem. Aber der Nachweis ist oft schwierig.“ Das „Delikt schlechthin“ in Deutschland sei neben Versicherungsbetrug aber Betrug bei der Steuererklärung.

Dobrindt beklagt „linke Propagandahöhlen wie die Rote Flora in Hamburg oder die Rigaer Straße in Berlin“. Was ist dort los?

Einige früher besetzte Häuser in der Rigaer Straße im Ost-Berliner Stadtteil Friedrichshain gelten schon lange als Rückzugsorte der linksextremen Szene. Die Bewohner, die inzwischen meist reguläre Mietverträge haben, sehen die Straße und die nächste Kreuzung als Revier, das gegen den Staat verteidigt werden muss. Von den Dächern werfen Extremisten Steine auf Streifenwagen. Benachbarte Neubauten werden beschädigt und Autos angezündet. Im Umkreis stellte die Polizei in fünf Jahren 600 Straftaten fest.

Für die linksautonome Szene in Deutschland ist die Rote Flora im Hamburger Schanzenviertel einer der wichtigsten Anlaufpunkte. Und immer wieder stand das besetzte Empfangsgebäude eines ehemaligen Theaters aus dem 19. Jahrhundert auch im Zentrum von Krawallen und Ausschreitungen, etwa rund um den 1. Mai. Für die Besetzer ist die Flora „Freiraum autonomer Lebensverwirklichung“.

Und nun?

Die große Koalition aus CDU, CSU und SPD hat einen „Pakt für den Rechtsstaat“ vereinbart, der unter anderem 15.000 neue Stellen für die Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern und 2000 neue Stellen in der Justiz vorsieht. Die Polizeigewerkschaften beklagen jahrelang Sparpolitik mit Personalkürzungen und begrüßen das. Auch der Deutsche Richterbund will Taten sehen: „Die Strafjustiz ist auf Grund ihrer Vernachlässigung durch die Politik zum Nadelöhr geworden“, sagt der Vorsitzende Jens Gnisa. Die neuen Stellen für Richter und Staatsanwälte seien dringend notwendig. „Denn in den nächsten 15 Jahren gehen etwa 40 Prozent aller Richter und Staatsanwälte in Bund und Ländern in den Ruhestand.“

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