Wäre es nicht so traurig, könnte man den heutigen Tag mit herzhaftem Gelächter beginnen. Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron am Vormittag in Aachen die Neuauflage des deutsch-französischen Freundschaftsvertrags aus dem Jahr 1963 unterzeichnen, fürchtet nämlich Frankreichs politische Rechte um das Elsass und Lothringen, und die deutsche AfD zetert, Paris wolle nur an den Geldbeutel der Nachbarn.

Dass eine zwischen Grenzstädten pendelnde Trambahn oder gemeinsame Kindertagesstätten als Beweis für Berliner Annexionsgelüste herhalten müssen, während die AfD die Geschichte von der diebischen Elster erzählt, die über den Rhein geflogen kommt, dürfte Merkel und Macron in ihrer Absicht nur bestätigen: In Zeiten von Populismus und Nationalismus, die sich auch bösartiger Lügen bedienen, wollen die beiden die Zukunft Europas in Freundschaft bekräftigen. Der Vorwurf, den man ihnen machen muss, ist jedoch, dass sie dabei nicht weit genug gehen. 

Als Bundeskanzler Konrad Adenauer und der französische Präsident Charles de Gaulle vor genau 56 Jahren ihre Unterschriften unter den Élysée-Vertrag setzten, besiegelten sie damit den festen Willen ihrer beiden Völker, die langjährige Erbfeindschaft zu beenden. Der 22. Januar 1963 war nicht bloß ein Tag mit Symbolcharakter, wie wir ihn heute erleben werden.

Sechs Jahrzehnte später haben wir uns daran gewöhnt, wie selbstverständlich vom deutsch-französischen Motor zu sprechen, der den oft genug festgefahrenen Karren EU aus dem Schlamm ziehen soll. Nicht nur viele Jüngere, die Krieg und Leid nicht erlebt haben, meinen sogar, mit hochfahrender Arroganz über Versäumnisse und mögliche Fehlentscheidungen lästern zu dürfen. Die Schützengräben und Bunker der Neuzeit heißen Defizitregeln und Exportüberschüsse. Da verreckt keiner. Also immer feste drauf. 

Was hat der Bürger davon?

Wenn Deutschland und Frankreich wenige Wochen vor der Wahl des europäischen Parlaments mit dem Vertrag beweisen wollten, dass gegenseitiges Verständnis, Wohlwollen, Kooperation und Kompromissbereitschaft zu mehr führen als das engstirnige und egoistische Klein-Klein der Nationalstaaten, hätte es mehr bedurft als 16 Seiten zum Teil sehr gestanzt und leer klingender Formulierungen. Adenauer und de Gaulle waren seinerzeit Autoritäten, die selbst widerstrebende Bürger mitzogen. Wer 1963 Kind war, geht heute aber vielleicht gemeinsam mit seinen Enkeln aus Furcht vor Digitalisierung, Sozialabbau und Verarmung auf die Straße. Einfache Antworten stehen hoch im politischen Kurs und seien sie noch so dumm, dreist oder beides.

Deshalb ist es sicher ein Vertrauensbeweis, dass die Parlamentarier der beiden Länder sich künftig regelmäßig in gemeinsamen Sitzungen austauschen wollen. Aber was hat der nach Antworten dürstende Bürger genau davon, wenn die Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik künftig besser abgestimmt werden soll? Ganz neu ist die Absicht nicht, und Details gibt der Vertrag nicht her. 

Die Integration der Volkswirtschaften soll vertieft werden, ein deutsch-französischer Wirtschaftsraum mit gemeinsamen Regeln und der Harmonisierung des Wirtschaftsrechts ist das Ziel. Dürfen Unternehmer auf beiden Seiten des Rheins auf gleichlautende Gesetze hoffen? Ein gemeinsamer Rat aus Wirtschaftsexperten soll das gegenseitige Verständnis fördern. Aber bis heute sind nicht einmal Kandidaten für dieses Gremium benannt. 

Nur ein Anfang

Oder was heißt es konkret, wenn Deutschland und Frankreich „die Berücksichtigung des Klimaschutzes in allen Politikbereichen“ sicherstellen wollen? Schließlich entzündete sich der Zorn der französischen Gelbwesten an der geplanten Einführung einer CO2-Steuer. Und Deutschland hat längst eingeräumt, dass es seine für das Jahr 2020 anvisierten Klimaziele verfehlen wird. Auch weil mit Rücksicht auf Arbeitsplätze zu viele zu emissionsstarke Autos zu schnell auf den Straßen unterwegs sind und der Kohleausstieg eine Menge Geld und Streit kosten wird.

„Das muss jetzt mit Musik unterlegt werden“, heißt es dazu aus dem Pariser Präsidentenpalast. Man war und werde sich nicht über alle Themen einig. „Aber wenn Frankreich und Deutschland keine Übereinkunft finden, dann gibt es keine Fortschritte bei europäischen Projekten.

Eine Liste mit konkreten bürgernahen Ideen für die nächsten zwei bis fünf Jahre soll zügig vorgelegt werden. Eine davon ist ein Zwei-Länder-Gewerbepark nach der für 2020 geplanten Stilllegung des grenznahen französischen Kernkraftwerks Fessenheim. Viel mehr davon nötig, wenn Deutsche und Franzosen ihre Freundschaft als Gewinn verstehen und als solchen dann auch den übrigen Europäern anpreisen wollen.

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