Istanbul – Fast fünf Monate nach Beginn des russischen Angriffskriegs kann die Ukraine dank einer internationalen Vereinbarung Millionen Tonnen Getreide für den Weltmarkt ausführen.

Russland und die Ukraine unterzeichneten in Istanbul im selben Raum – aber getrennt voneinander und nacheinander – entsprechende Abkommen unter Vermittlung von UN-Generalsekretär António Guterres und der Türkei. Die Vereinbarung regelt, wie das Getreide aus der Ukraine über das Schwarze Meer durch den Bosporus auf den Weltmarkt gelangen kann. Es war das erste Mal seit Kriegsbeginn Ende Februar, dass Kiew und Moskau überhaupt Dokumente unterzeichneten und einen Kompromiss eingingen.

Die Ukraine zählt zu den wichtigsten Getreideexporteuren der Welt. Das Abkommen „eröffnet den Weg für umfangreiche kommerzielle Lebensmittelexporte aus drei entscheidenden ukrainischen Häfen am Schwarzen Meer – Odessa, Tschornomorsk und Juschnyj“, sagte Guterres. „Dies ist eine Einigung für die Welt.“ Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, der ebenfalls bei der Zeremonie anwesend war, nannte den Tag „historisch“.

Guterres und Erdogan als Vermittler in dem Konflikt

Die Einigung kam wohl vor allem durch die Vermittlung von Guterres zustande, der in Moskau Präsident Wladimir Putin und in Kiew Staatschef Wolodymyr Selenskyj getroffen hatte. Das Ende der Blockade ukrainischer Getreideausfuhren sei ein „Leuchtfeuer der Hoffnung“, sagte der UN-Generalsekretär. Die Verschiffung von Getreide und Lebensmittelvorräten auf die Weltmärkte werde dazu beitragen, „die globale Versorgungslücke bei Lebensmitteln zu schließen“, und die weltweiten Nahrungsmittelpreise zu stabilisieren.

„Es wird den Entwicklungsländern am Rande des Bankrotts und den am meisten gefährdeten Menschen am Rande einer Hungersnot Erleichterung bringen“, sagte Guterres. Er mahnte zugleich, alle Seiten müssten nun ihren Verpflichtungen nachkommen. Kremlchef Putin hatte erst am Dienstag mit Erdogan bei einem Treffen in der iranischen Hauptstadt Teheran über den Konflikt um das Getreide gesprochen.

Vereinbarung zu humanitärem Korridor

Vereinbart wurde nun ein humanitärer Korridor zwischen der Ukraine und dem Bosporus – der Meerenge zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer. Demnach wird der Export von einem gemeinsamen Koordinationszentrum mit Vertretern der Vereinten Nationen, Russlands der Ukraine sowie der Türkei in Istanbul überwacht. Ein ranghoher UN-Funktionär nannte das Zentrum den „Herzschlag der Operation“.

Der Export betrifft zudem nicht nur Getreide, sondern auch Lebensmittel, Dünger und Ammoniak. Die Vereinbarung sieht vor, dass bei Bedarf ein Drittland zur Entschärfung der Minen im Schwarzen Meer herangezogen werden kann. Russland hatte zuvor eine grundsätzliche Entminung gefordert, allerdings befürchtete die Ukraine, dass ihre Küste dann zum Einfallstor für Moskaus Truppen werden könnte.

Zudem einigten sich die Parteien den Angaben zufolge darauf, dass Schiffe mit dem Ziel Ukraine zunächst in Istanbul durchsucht werden, um sicherzustellen, dass sie keine Waffen oder Ähnliches geladen haben. Eine weitere Kontrolle solle es dann in der Türkei geben, wenn die Schiffe aus der Ukraine kommend das Schwarze Meer wieder verlassen wollen. Damit soll sichergestellt werden, dass keine Waffen an Bord sind. Das war eine Bedingung Russlands gewesen.

Schiffe in dem humanitären Korridor und die beteiligten Häfen dürften dabei nicht angegriffen werden. Dieser Punkt wird in New York so interpretiert, dass an diesen strategisch wichtigen Orten – zum Beispiel im Hafen Odessas – faktisch eine Waffenruhe gelten soll. Das Abkommen soll den Angaben zufolge zunächst für vier Monate gelten. Ein UN-Funktionär machte aber deutlich, dass eine Verlängerung bis zum Ende des Krieges angestrebt werde. Die Umsetzung des Abkommens – und damit die Ausfuhr von Nahrungsmitteln aus der Ukraine – könnte nach UN-Angaben noch einige Wochen dauern.

Russland: Getreide wichtig für den Weltmarkt

Kremlsprecher Dmitri Peskow betonte, dass es sehr wichtig sei, dass das ukrainische Getreide auf den Weltmarkt komme. Putin hatte zuvor eine Paketlösung verlangt, damit auch Russland sein Getreide und seine Dünge- und Lebensmittel auf dem Weltmarkt verkaufen könne. Nach Darstellung von Verteidigungsminister Sergej Schoigu, der in Istanbul das Abkommen unterschrieb, wurde mit Guterres ein Memorandum unterzeichnet, dass sich die Vereinten Nationen international für diesen Export einsetzen wollen.

Russland hatte stets Vorwürfe des Westens und der Ukraine zurückgewiesen, für die Blockade der ukrainischen Getreideausfuhren verantwortlich zu sein. Russland beklagt durch die Sanktionen des Westens etwa massive Einschränkungen für seinen internationalen Schiffsverkehr, der für den Transport von Getreide und Düngemitteln genutzt wird. So dürfen die russischen Schiffe viele Häfen nicht mehr ansteuern oder erhalten keine Versicherungen.

Ukraine: Kein Dokument mit Russland unterzeichnet

Die Ukraine legte Wert darauf, kein Dokument mit Russland unterzeichnet zu haben. Es handelte sich um zwei separate Abkommen, betonte Präsidentenberater Mychajlo Podoljak auf Twitter. In Istanbul unterschrieb Infrastrukturminister Olexander Kubrakow. Kiew verliert nun ein Argument, dass die Russen mit der Hafenblockade „Millionen“ Menschen in den Hungertod schickten.

Russland wiederum dürfte missfallen, dass die Ukraine nun durch den Export Geld verdient, um sich im Krieg weiter finanziell über Wasser zu halten. Der stellvertretende ukrainische Infrastrukturminister Mustafa Najem schätzte den Exportumsatz durch die Vereinbarung auf monatlich etwa eine Milliarde US-Dollar.

Reaktionen auf die Abkommen von Istanbul

EU-Ratspräsident Charles Michel begrüßte die Lösung. „Dieses Abkommen kann Millionen von Menschen auf der ganzen Welt zugute kommen“, schrieb der Belgier auf Twitter. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sprach von einem „Schritt in die richtige Richtung“. Zugleich forderte er, das Abkommen schnell umzusetzen. Die EU sei entschlossen, den Export von ukrainischem Getreide zu unterstützen. „Durch Russlands illegale Invasion in die Ukraine sind Millionen von Menschen vom Hunger bedroht.“


Deutschlands größter Agrarhändler, die Münchner Baywa, erwartet keine rasche Verbesserung der Lage. Das Unternehmen bezweifelt auch, dass Reedereien ihre Handelsschiffe wieder fahren lassen. Es brauche entsprechende Vorbereitungen, bis wieder die ersten Schiffe fahren könnten, hieß es bei der Baywa. Die Schiffsbesatzungen bräuchten Sicherheit, erklärte eine Sprecherin. Großen Einfluss auf die Weizenversorgung in Westeuropa hat der Krieg nicht, da die EU selbst Getreide in großem Umfang exportiert.

© dpa-infocom, dpa:220722-99-112971/11

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