Gütersloh – Die Skepsis in der Bevölkerung gegenüber Zuwanderung sinkt einer Studie zufolge, die Chancen von Migration rücken stärker in den Fokus.
Zugleich haben Sorgen vor negativen Folgen von Zuwanderung weiter abgenommen, auch wenn diese noch immer bei einer Mehrheit bestehen. Dies ergab eine Befragung im Auftrag der Bertelsmann Stiftung zur Willkommenskultur in Deutschland. Sie fördert auch eine klar gestiegene Bereitschaft zur Aufnahme Geflüchteter zutage.
«Migration ist ein emotionales Thema»
Kantar Emnid hatte im November 2021 gut 2000 Personen ab 14 Jahren repräsentativ befragt. Die Ergebnisse machten deutlich: «Es bewegt sich was», wie es in der am Mittwoch veröffentlichten Analyse aus Gütersloh hieß.
«Migration ist ein emotionales Thema», sagt der Studienautor Orkan Kösemen der Deutschen Presse-Agentur. Bei der Offenheit gegenüber Zuwanderung habe es nach der sehr hohen Anzahl aufgenommener Geflüchteter 2015/2016 einen Einbruch gegeben. «Das ist jetzt vorbei.» Kritische Betrachtungen und Ablehnung seien aber weiter «präsent und spürbar», bilanziert die Untersuchung. Und ein «harter Kern» ausgeprägter Migrationsskeptiker – immerhin ein Fünftel der Bevölkerung – sehe Geflüchtete als «Gäste auf Zeit», um deren Integration das Land sich nicht bemühen solle.
48 Prozent Mehreinnahmen für den Rententopf
Auf der Chancenseite meinen mit Blick auf die Wirtschaft 68 Prozent der Befragten, Zuwanderung bringe Vorteile für die Ansiedlung internationaler Firmen, und 55 Prozent, sie helfe gegen Fachkräftemangel. Knapp zwei Drittel erwarten eine geringere Überalterung der Gesellschaft dank Migration, 48 Prozent Mehreinnahmen für den Rententopf. Alle Werte fallen höher aus als Befragungen zuvor 2017 und 2019. Noch 36 Prozent finden, Deutschland könne keine Geflüchteten mehr aufnehmen – 2017 hatten das 54 Prozent gesagt. Fast jeder Zweite (48 Prozent) gibt an, man solle aus humanitären Gründen mehr Schutzsuchende aufnehmen – im Vergleich zu 37 Prozent 2019 und 2017.
Nach wie vor gibt es in weiten Teilen der Bevölkerung Befürchtungen, sie sind aber gesunken. So gehen noch 67 Prozent von Belastungen für den Sozialstaat aus, 66 Prozent erwarten Konflikte zwischen Eingewanderten und Einheimischen. Rund 56 Prozent rechnen mit Problemen in den Schulen. Wohnungsnot in Ballungsräumen macht 59 Prozent Sorgen, in diesem Fall unverändert zu 2019.
Kösemen sieht bei dem insgesamt aber positiveren Blick auf die Zuwanderung einen Corona-Faktor: Vielen sei bewusst geworden, dass man auf Zugewanderte in Bereichen der kritischen Infrastruktur wie Pflege, Landwirtschaft oder bestimmten Dienstleistungen angewiesen sei.
«Geringerer Bildungsstand bedeutet oft geringeres Einkommen»
Integration wird weniger als Einbahnstraße verstanden. Erwartungen an die Aufnahmegesellschaft und deren Verantwortung rücken ins Blickfeld: Diskriminierung wegen der Herkunft und mangelnde Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt werden von vielen Befragten als große Integrationshemmnisse genannt. Und bei Polizei, Schulen oder Kitas seien Personen mit Migrationshintergrund zu schwach vertreten. Ein Detail: «Frauen befürworten neue Antidiskriminierungsgesetze eher als Männer», scheinen laut Studie sensibler für Benachteiligung zu sein.
Bei genauerem Hinsehen zeigen sich Unterschiede auch nach Alter. Jüngere Befragte bis 29 Jahre blicken positiver auf Zuwanderung. Ein Beispiel: Sie mache das Leben interessanter, sagen 76 Prozent. «Für junge Leute ist Vielfalt eher Realität; sie werden, etwa in den Schulen, in einem vielfältigeren Umfeld groß», erläutert Kösemen.
Menschen mit höherer Bildung sehen die Vorteile stärker, bei niedrigem Bildungsstand sind negative Einschätzungen deutlicher ausgeprägt. «Geringerer Bildungsstand bedeutet oft geringeres Einkommen. In diesem Personenkreis bestehen stärker Befürchtungen, auf dem Arbeitsmarkt oder Wohnungsmarkt verdrängt zu werden.» Bei höherer Bildung sei Konkurrenzangst nicht weit verbreitet.
Wie wird die Akzeptanz von Geflüchteten wahrgenommen? In Westdeutschland glauben 62 Prozent, dass die Bevölkerung vor Ort diese «sehr oder eher» willkommen heißt. In Ostdeutschland beobachten das nur rund 42 Prozent. «Für die Abweichungen kommt ein Bündel an Gründen infrage. Dazu gehört auch mangelnde Erfahrung mit Einwanderung», schildert der Studienautor. Zudem gebe es dort für die AfD mehr Zuspruch als in Westdeutschland.
Nordrhein-Westfalen wirbt mit einer Kampagne um mehr junge Leute mit Migrationsgeschichte für den öffentlichen Dienst. Man wolle im «offenen Einwanderungsland» mit gutem Beispiel vorangehen, hatte Integrationsminister Joachim Stamp (FDP) jüngst betont. Solche Initiativen, die auf kommunaler Ebene auch aus anderen Bundesländern bekannt seien, hält Kösemen für wichtig. «Prinzipiell sollte auch die öffentliche Verwaltung die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegeln.» Zum bundespolitischen Kurs sagt er: «Die Melodie, die die Ampel-Regierung bisher beim Thema Migration angeschlagen hat, und ihre Definition Deutschlands als modernes Einwanderungsland passen zur aktuellen Einstellung der Bevölkerung.»
© dpa-infocom, dpa:220216-99-147926/6
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