Ob es an der Zeit ist zu handeln, darüber muss erst einmal geredet werden: Im Bundestag startet die „Orientierungsdebatte“ zur Corona-Impfpflicht. Das wird höchste Zeit. Denn das Experiment Solidarität ist eindeutig gescheitert.
Auf die Plätze, fertig, Pieks! Am Mittwoch beginnt die „Orientierungsdebatte“ im Bundestag über das Für und Wider einer allgemeinen Corona-Impfpflicht. Eines ist klar: Diese Diskussion ist kein Fall für „der Klügere gibt nach“. Impfen rettet Leben. Das sollte als Grund reichen, tut es aber offensichtlich nicht.
Was hätten wir uns Zeit, Nerven und Tote sparen können! Da liegt seit Monaten ein ungefährliches, kostenloses, frei zugängliches Mittel auf dem Tisch, das wissenschaftlich bewiesen das eigene und die Leben anderer Menschen retten kann. Stattdessen fahren wir wieder und wieder an der vom Navi vorgeschlagenen Ausfahrt vorbei, nur um zu sehen, ob sich der Stau nicht doch von selbst auflöst.
Ja, es ist richtig und wichtig, dass es eine demokratisch gewählte Regierung erst mit Aufklärung, Anreizen und Vertrauen auf das Verantwortungsbewusstsein des Einzelnen versucht. Intrinsisches Handeln ist immer besser als extrinsisches Folgen. Nur ist dieses Experiment der Solidarität gescheitert.
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Impfpflicht widerspricht nicht liberalem Denken – sie schützt es
Dabei muss sich die Regierung nicht einmal gegen den Willen des Volkes stellen: Laut einer aktuellen Umfrage des „Spiegel“ sind 61 Prozent der Bevölkerung für die Einführung der Impfpflicht. Was hält die Politik also noch ab?
Da wären wir schnell wieder beim Wort Verhältnismäßigkeit. Zusammengefasst: Der Staat hat abzuwägen, ob der Schutz der eigenen Bevölkerung schwerer wiegt als die persönliche Freiheit des Einzelnen. Klingt einfach, ist aber juristisch und ethisch verhältnismäßig kompliziert. Entsprechend „lebendig“ dürfte sich die Diskussion im Bundestag gestalten. Im Parlament haben sich vorab drei Interessensgruppen herauskristallisiert:
- Befürworter der Impfpflicht ab 18 Jahren
- Unterstützer einer Impfpflicht für ältere Mitbürger
- Gegner der Impfpflicht
Letztere Gruppe wurde von FDP-Urgestein Wolfgang Kubicki ins Leben gefaselt. Allerdings ist der 69-Jährige bekannt dafür, dagegen zu sein. Nicht das erste Mal gelingt es Kubicki mit Bravour, Freiheit und Leichtsinnigkeit zu verwechseln. Nein, eine Impfpflicht widerspricht keineswegs liberalem Denken – sie schützt es.
Dass es überhaupt zu einer fraktionsungebundenen Debatte kommt, dürfte eher strategische denn demokratische Gründe haben. Scholz fehlt schlichtweg die volle Rückendeckung seiner Ampel. Es ist ein Armutszeugnis, dass sich der Kanzler selbst nicht in die Diskussion einschalten will. In dieser Situation braucht es einen Regierungschef, der auf den Tisch haut, keinen Drückeberger, der die Decke über den Kopf zieht. So haben es die Abgeordneten allein in der Hand: Sie können sich zwischen historischem Handeln und apathischen Wegducken, zwischen Emotion und Resolution entscheiden.
Impfpflichten weltweit und im Wandel der Zeit 19.30
Die Liebe zum Status Quo ist toxisch
Denn diejenigen, die sich seit rund zwei Jahren an die Regeln halten, bezahlen für die Bockigkeit ihrer uneinsichtigen Mitbürger. Nun könnten wir einfach so weitermachen wie bisher und Ungeimpfte schlichtweg vom öffentlichen Leben ausschließen. Frei nach dem Motto: Jeder ist seines Restaurantbesuchs eigener Schmied. Doch diese Liebe zum Status Quo ist toxisch. Denn sie bedeutet eine potenzielle Gefahr für Unschuldige. Unschuldige, die sich nicht impfen lassen können. Unschuldige, die in der nächsten Winterwelle erneut vernachlässigt werden, weil die Intensivstationen am Limit sind.
Und nein: Nicht jeder Ungeimpfte ist ein prioritätsverirrter, rechtsseitig erblindeter Spaziergänger, der sein verzerrtes Bild von Freiheit auf Pappschilder schmiert. Weiterhin gilt: Ungeimpft ist nicht gleich unbekehrbar. Da sind diejenigen, die sich immer noch nicht aufgeklärt fühlen. Diejenigen, die eine irrationale aber ernstzunehmende Angst vor dem Pieks haben. Diesen Menschen könnte geholfen werden – würde uns die Zeit nicht davonlaufen.
Denn die nächste Welle kommt – und mit ihr Tode, die hätten vermieden werden können. Dann noch von Verhältnismäßigkeit zu sprechen, wäre an Zynismus kaum zu überbieten. Die Impfpflicht ist keine Alternativroute, sie ist der einzige Weg ans Ziel. Denn Herdenimmunität erfordert Herdendenken. Und davon sind wir meilenweit entfernt.
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