Am frühen Morgen bebte in den afghanischen Regionen Chost und Paktika an der Grenze zu Pakistan die Erde. Hunderte Menschen wurden getötet, von Stunde zu Stunde steigen die Opferzahlen. Das bergige Terrain erschwert die Rettungsarbeiten.  

Wie stark war das Beben?

„Es handelt sich um das stärkste Erdbeben, das Afghanistan wohl seit 1998 erlebt hat“, sagt Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network im Interview mit ZEIT ONLINE. Im Südosten des Landes seien Erdbeben relativ ungewöhnlich, normalerweise bebe es eher in der Region um Kabul und im Nordosten.

Die US-Erdbebenwarte (USGS) meldete für das Beben, das um kurz vor 23 Uhr
am Dienstag (Ortszeit) stattfand, die Stärke 5.9 sowie ein etwas schwächeres
Nachbeben. Den Angaben nach befand sich das Zentrum des Bebens rund 50 Kilometer
südwestlich der Stadt Chost nahe der Grenze zu Pakistan in rund zehn
Kilometern Tiefe. 

Pakistanische Behörden hatten das Beben mit einer
Stärke von 6.1 registriert. Die Erschütterungen waren den Angaben nach in weiten Teilen des
angrenzenden Landes – so auch in der Hauptstadt Islamabad und selbst in
Lahore im Osten des Landes – zu spüren. 

Wie groß ist das Ausmaß der Zerstörung?

Bislang sind mehr als 1.000 Menschen ums Leben gekommen. Weitere 1.500 Menschen seien verletzt worden, berichtete die staatliche afghanische Nachrichtenagentur Bachtar. Der afghanische Katastrophenschutz befürchtet, dass die Opferzahl noch höher ist. 

Nach Regierungsangaben der Taliban-Regierung wurden Dutzende Häuser in den Provinzen Paktika und Chost zerstört. „Paktika gehört zu den ärmsten Provinzen in einem ohnehin sehr armen Land“, sagt Afghanistan-Experte Ruttig. Dort befänden sich die am stärksten betroffenen Distrikte des Landes. „Über einen Distrikt sagt die UN bereits, dass dort 70 Prozent des Wohnungsbestandes zerstört sind.“

Die Bauweise in der armen und wirtschaftlich schwachen Region ist aus Kostengründen nicht erdbebensicher, viele Familien leben dicht zusammen. Zudem dürfte das Beben die Bewohner und Bewohnerinnen in der Nacht überrascht haben. Hinzu kommt, dass die humanitäre Lage in Afghanistan infolge des Abzugs der westlichen Truppen und der Machtübernahme der radikalislamischen Taliban vor knapp einem Jahr ohnehin katastrophal ist. Es fehlt etwa an Lebensmitteln und Medikamenten.

Robert Sanders,
Seismologe bei der amerikanischen Erdbebenwarte, sagte, an den
meisten Orten der Welt würde ein Erdbeben dieser Größenordnung keine
derartigen Schäden anrichten. Die Zahl der Todesopfer hänge jedoch
häufig von der Geografie, der Bauqualität und der Bevölkerungsdichte ab.
Wegen der bergigen Landschaft gebe es Steinschlag und Erdrutsche, von
denen man erst später erfahren werde. In der Vergangenheit habe man
gesehen, dass ähnliche Beben in diesem Teil der Welt erhebliche Schäden
angerichtet hätten.

Was berichten Augenzeugen?

„Die Menschen heben ein Grab nach dem anderen aus“, sagt der Leiter der Abteilung für Information und Kultur in der Region Paktika, Mohammed Amin Huzaifa, dem Sender Al Jazeera. „Es regnet zudem und alle Häuser sind zerstört. Die Menschen sind immer noch unter den Trümmern.“

Von einem großen Chaos sprach der Journalist Rahim Chan Chushal. „Ich habe in einer Stunde hundert Leichen gezählt“, sagt der Journalist Rahim Chan Chushal der Nachrichtenagentur dpa. „Das Grauen ist groß. Die Eltern können ihre Kinder nicht finden und die Kinder ihre Eltern nicht. Jeder fragt sich, wer tot ist und wer lebt. Die Häuser sind aus Lehm, und deshalb wurden sie alle durch die starke Erschütterung zerstört.“ 

Wie schnell kommen die Rettungsarbeiten voran?

Die Voraussetzungen für die Rettungsaktion sind schlecht. „Es trifft sehr abgelegene und unterentwickelte Regionen mit schwacher Infrastruktur“, sagt Afghanistan-Experte Thomas Ruttig. „Die Straßen sind zum großen Teil unbefestigt. Es ist sehr schwer, die Hilfe dort hinzubekommen.“ 

Inzwischen sandte die Regierung Hubschrauber an den Unglücksort, um den Menschen vor Ort zu helfen. Allerdings fehlt es an technischer Ausstattung. „Afghanistan ist insgesamt schlecht auf solche Situationen vorbereitet, weil die Infrastruktur und die Institutionen, die mit solchen Lagen umgehen sollen, schon vor der Taliban-Machtübernahme sehr schwach waren“, sagt Ruttig.

In Kabul berief Ministerpräsident Mohammad Hassan Achund eine Krisensitzung im Präsidentenpalast ein, um die Hilfsmaßnahmen für die Opfer in Chost zu koordinieren. Der UN-Koordinator in Afghanistan, Ramis Alakbarow, teilte mit, Hilfe sei bereits unterwegs. Bereits am Mittwoch trafen Helfer und Helferinnen des Roten Halbmonds ein. 

Die Johanniter teilten mit, gemeinsam mit der afghanischen Nichtregierungsorganisation Hadaaf bereits Erkundungsteams in die betroffenen Gebiete in Chost geschickt zu haben. „Wir haben mobile Kliniken in der Gegend, die schnell in die betroffenen Gebiete geschickt werden können, um medizinische Notversorgung zu leisten“, sagt der Leiter der Johanniter-Programme in Afghanistan, Louis Marijnissen.

Welche Rolle spielt es, dass die Taliban das Land regiert?

„Die Taliban werden sich nicht nehmen lassen, die Hilfe zu koordinieren“, sagt Afghanistan-Experte Thomas Ruttig. Man müsse deshalb abwarten, wie die Rettungsaktion abläuft. So wie es aussieht, kooperiert die Taliban-Regierung im Moment mit den internationalen Hilfsorganisationen und hat sich sogar selbst an die UN gewandt.

Generell sollte die Taliban nicht unterschätzt werden, was ihre Fähigkeiten angeht, Hilfe zu koordinieren, sagt Experte Ruttig. „Sie haben über ein Jahrzehnt auch parallele Regierungsstrukturen in weiten Teilen des Landes geleitet.“ Darüber hinaus haben die Taliban die Infrastruktur der alten Regierung geerbt und fast unverändert übernommen, so zum Beispiel die Katastrophenschutzagentur.

Das größte Problem, das durch die Taliban-Regierung entsteht, sieht der Experte bei der ohnehin schlechten medizinischen Versorgung, insbesondere bei der Behandlung von Frauen. „In ganz Paktika gibt es wohl keine einzige Ärztin und die Taliban bestehen in der Regel darauf, dass Frauen nur von Ärztinnen behandelt werden“, sagt Ruttig. Noch gebe es aber keine Anzeichen dafür, dass Frauen nicht behandelt würden.

Wie reagiert die Welt auf das Erdbeben?

Die Bundesregierung äußerte sich betroffen über die Ereignisse und sicherte dem afghanischen Volk humanitäre Hilfe zu. „In Afghanistan hat ein schweres Erdbeben viele hundert Menschen in den Tod gerissen und viele weitere schwer verletzt. Die Bundesregierung spricht dem afghanischen Volk ihr tiefes Mitgefühl aus“, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit.

Auch wenn Deutschland das Taliban-Regime in Afghanistan nicht anerkenne, so werde die Bundesregierung das Land auch weiter im Rahmen der humanitären Hilfe unterstützen, versicherte Hebestreit. Einen Kondolenzbrief habe die Bundesregierung der Taliban aber nicht zukommen lassen, da es dort auch keinen Ansprechpartner gebe.

Papst Franziskus betete für die Opfer des Bebens. „Ich drücke den Verletzten und denen, die vom Erdbeben
betroffen sind, meine Nähe aus“, sagte das Oberhaupt der katholischen
Kirche in Rom. Er bete besonders für diejenigen,
die ihr Leben verloren hätten und für deren Familienangehörige, sagte er.

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