Von Ansgar Haase, dpa
Wunsch der Bundesregierung
Brüssel (dpa) – Deutsche Kleinstparteien wie Freie Wähler, Piraten und NPD sollen spätestens von 2024 an keine Chance mehr auf einen Einzug ins Europaparlament haben. Auf Initiative von CDU, CSU und SPD hin einigten sich die EU-Staaten auf die Einführung einer neuen Sperrklausel.
Sie soll dafür sorgen, dass in Deutschland Parteien mit einem niedrigen einstelligen Wahlergebnis keinen Sitz im Europaparlament bekommen. Derzeit besetzen sie 7 der 96 deutschen Sitze im Europaparlament.
Eigentlich hatte die Sperrklausel bereits vor Monaten beschlossen werden sollen, um eine problemlose Einführung noch zur Europawahl am 26. Mai des kommenden Jahres zu ermöglichen. Länder wie Belgien und Italien zögerten den Entscheidungsprozess allerdings zuletzt wochenlang hinaus.
Eine Umsetzung schon für die Wahl 2019 würde nun nach Einschätzung der derzeitigen EU-Ratspräsidentschaft gegen den europäischen Verhaltenskodex für Wahlen verstoßen. Die Leitlinien der sogenannten Venedig-Kommission des Europarates sehen nämlich vor, dass es in den zwölf Monaten vor einer Wahl keine grundlegenden Wahlrechtsänderungen mehr geben sollte. Hält sich die Bundesregierung daran, würde die Sperrklausel, die zwischen zwei und fünf Prozent liegen soll, erst bei der Wahl 2024 zum Einsatz kommen.
Ein klare Aussage der Bundesregierung zum Thema gab es zunächst nicht. Der Chef der deutschen CDU-Europaabgeordneten, Daniel Caspary, sprach sich allerdings dafür aus, die Sperrklausel schon bei der Wahl 2019 anzuwenden. Das entsprechende Gesetzgebungsverfahren laufe ja schon seit zwei Jahren und komme dementsprechend nicht überraschend, sagte er am Rande einer Tagung in München. Deshalb liege auch kein Verstoß gegen die Jahresregel im europäischen Verhaltenskodex vor.
Andere Befürworter der Sperrklausel argumentieren, dass der Verhaltenskodex nicht rechtsverbindlich sei. Zudem könne darüber gestritten werden, ob eine Mindesthürde überhaupt als «Grundelement des Wahlrechts» gelte, heißt es.
Zugleich wird eingeräumt, dass die Zeit bis zur Wahl knappt ist. Vor der Einführung muss die Sperrklausel noch vom EU-Parlament angenommen und dann ins deutsche Wahlrecht überführt werden. «Ob in Deutschland die Mindesthürde eingeführt wird, hängt vom Gesetzgebungsprozess im Deutschen Bundestag ab», kommentierte der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen.
Von den Kleinstparteien kommt ungeachtet dessen scharfe Kritik. «Millionen von Wählerstimmen unter den Tisch fallen lassen zu wollen, nur um sich selbst mehr Posten zu besorgen – das ist skrupellos», kommentierte der Bundesvorsitzende der Piratenpartei, Carsten Sawosch. Seine Partei bereite bereits rechtliche Schritte gegen die Entscheidung vor.
Der Europaabgeordnete Arne Gericke (Freie Wähler) kommentierte: «Operation erfolgreich, Demokratie tot.» Aus Sorge um Sitze und aus Angst vor der AfD boxten CDU, CSU und SPD nun «in politischer Übersprungshandlung» gegen die Kleinen.
Neben den Piraten, den Freien Wählern und der rechten NPD könnte die geplante Änderung des EU-Wahlrechts beispielsweise die Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP) und die Partei von Satiriker Martin Sonneborn treffen. Sie alle hatten bei der Wahl 2014 den Einzug in Europaparlament geschafft, weil das Bundesverfassungsgericht kurz zuvor die Drei-Prozent-Hürde im deutschen Europawahlgesetz ersatzlos gestrichen hatte.
Die Sperrklausel verstoße gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien, hieß es damals im Urteil. Im Gegensatz zum Bundestag komme es im Europaparlament nicht so auf stabile Mehrheitsverhältnisse an.
Das Verfassungsgericht widersprach damit der Argumentation der großen etablierten Parteien wie CDU und SPD, die ihr Eintreten für eine Sperrklausel bei der Europawahl mit der Sorge vor einer Zersplitterung des EU-Parlaments begründen. Um dem Einflussbereich des Bundesverfassungsgerichts zu umgehen, soll die Sperrklausel nun über EU-Recht eingeführt werden.
Von Seiten der Kleinstparteien wird das Reformprojekt vor allem mit Blick auf die Urteile des Bundesverfassungsgerichts kritisiert. Die Parteien argumentieren auch, dass die Gefahr einer Zersplitterung gering ist, weil sich die Abgeordneten kleiner Parteien sehr oft einer Fraktion anschließen, die in etwa ihre politischen Vorstellungen vertritt. Derzeit sind beispielsweise fünf der sieben deutschen Einzelmandatsträger Mitglied einer der großen EU-Parlamentsfraktionen. Hinzu kommt, dass die Sperrklausel so konzipiert wurde, dass sie lediglich Deutschland und mit Einschränkungen Spanien treffen soll. Es gehe um eine «lex germania», kommentierte der Europaabgeordnete Gericke.
Der Europaabgeordnete und Satiriker Martin Sonneborn reagierte mit Spott. Er wundere sich, dass die SPD die Reform unterstütze, sagte er der Parlamentarier der Deutschen Presse-Agentur. Seine «Ein-Prozent-Partei» und die SPD hätten zuletzt in den Umfragen nur noch 16 Prozentpunkte getrennt. «Ich glaube, die Sozialdemokraten sollten sehen, dass eine Fünf-Prozent-Hürde ganz schön hoch sein kann», ergänzte er.
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