Diese neue Bundesregierung, die vor dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine ja noch auf den Namen Fortschrittskoalition hörte, zählt in ihren Reihen nicht nur so viele Frauen wie nie zuvor, sondern auch so viele Mütter wie noch nie. Nachdem es in den feministischen Debatten lange darum gegangen war, dass Frauen überhaupt angemessen in den höchsten politischen Ämtern des Landes vertreten sein sollen, hat sich, anfangs eher unbemerkt, bereits während der Kanzlerkandidatur von Annalena Baerbock im vergangenen Jahr der Fokus verschoben: Plötzlich ging es bisweilen auch darum, dass der Fulltime-Job einer Kanzlerin oder Ministerin mit dem Familienleben vereinbar sein sollte. Das zumindest war ein Anspruch, den vor allem junge Mütter, und natürlich auch Väter, in den sozialen Netzwerken in den Wahlkampf hineintrugen. In der Merkel-Ära hatte es das so noch nicht gegeben.
Nun, ein paar Monate später, muss man wohl einsehen, dass diese Forderung offensichtlich ein wenig naiv war und die Sache doch etwas komplizierter ist, als manche oder mancher sich das erträumt hat. Das Muttersein von Spitzenpolitikerinnen ist bis heute ein Thema geblieben, das immer wieder für Gesprächsstoff, gar für Kontroversen sorgt.
Baerbock und der Wodka-Härtetest
Da wäre zuallererst der Rücktritt der grünen Familienministerin Anne Spiegel, die an einem Sonntagabend sichtlich aufgelöst vor die Presse trat, nachdem der öffentliche Druck wegen eines vierwöchigen Urlaubs kurz nach der Flutkatastrophe im Ahrtal zu groß geworden war. Sie erzählte, für viele überraschend, sehr emotional von ihrem strapaziösen Familienleben mit einem kranken Ehemann und vier Kindern. So explizit hat Spiegel das freilich nicht gesagt, aber mit dieser Offenbarung erweckte sie den Eindruck, sie hoffte, man möge ihr aus diesem Grund ihre Fehler nachsehen. Einen Tag später trat sie dann doch zurück.
Oder man denke an den Fall der
Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD), die in die Kritik geriet, nachdem bekannt wurde, dass sie ihren
erwachsenen Sohn auf Dienstreisen mitgenommen und dafür die Flugbereitschaft
der Bundeswehr genutzt hatte. Der Sohn selbst hatte
über diese Reisen in den sozialen Netzwerken berichtet.
Im Mittelpunkt der Diskussion stand natürlich die
Frage, ob die Mitnahme des Sohnes moralisch
verwerflich ist – auch wenn die
Reise nicht auf Staatskosten stattfand, sondern zu den üblichen Bedingungen für
Ministeriumsmitarbeiter bezahlt wurde. Wie
auch immer man darüber befindet: Auch hier trat Ministerin Lambrecht in
einem seltenen Moment als Mutter in
Erscheinung, Auch wenn das Verteidigungsministerium beteuert,
dabei sei alles rechtens zugegangen, ein weiteres Mal schien die
private und die berufliche Welt einer Frau und Mutter miteinander zu
kollidieren.
Und da wäre noch der völlig anders gelagerte Fall der Außenministerin Annalena Baerbock. Die Grüne, von deren Arbeit viele Deutsche momentan so begeistert sind und die in allen Beliebtheitsrankings einen der vorderen Plätze einnimmt, spricht im In- und Ausland auffällig oft von (ihren) Kindern und explizit aus der Perspektive einer Mutter. In der internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem etwa sagte sie: „Als Mutter zweier Töchter stockt mir der Atem, wenn ich an die Millionen jüdischer Kinder denke, die ermordet wurden.“ Während ihrer Rede vor der UN erinnerte sie an das Mädchen Mia, das gerade in einer Kiewer U-Bahn-Station geboren wurde: „Ich glaube, bei der heutigen Abstimmung geht es um Mia. Es geht um die Zukunft der Kinder.“ Und als der russische Außenminister Sergei Lawrow ihr nach ihrem Treffen im Januar Wodka anbot, soll sie mit dem Satz abgelehnt haben: „Wenn mittags Wodkatrinken Härtetest ist… Ich habe zwei Kinder geboren.“
Die Fälle haben auf den ersten Blick wenig miteinander
gemein, zeigen aber drei höchst unterschiedliche Strategien, das Mutter- und
Ministerinsein miteinander zu vereinbaren. Und die Probleme, die sich daraus
jeweils ergeben. Anne Spiegel steht dabei in tragischer Weise für das Scheitern
dieses Versuchs: Sie wurde zwischen beiden Rollen offenbar zerrieben. Christine Lambrecht steht für die Probleme, die eine Vereinbarkeit von Beruf und Familie mit
sich bringen kann – selbst wenn das Kind schon volljährig ist: An der Frage
jedenfalls, ob ihr als viel beschäftigter Mutter nicht auch das Recht zugestehen
soll, den Sohn mitzunehmen auf eine Dienstreise oder ob sie schlicht ihre
Privilegien ausnutzte, scheiden sich die Geister. Annalena Baerbock wiederum
zeigt, wie die Doppelrolle – zumindest rhetorisch – gelingen kann. Sie hält die
Perspektive der Politikerin und Mutter heute im politischen Alltag so präsent
wie keine andere Spitzenpolitikerin hierzulande – auch wenn sie die Mühen dabei
bisher eher unerwähnt ließ.
Der entscheidende Faktor Zeit
Erinnern wir uns: Ursula von der Leyen hat in der Vergangenheit nur selten aus der Perspektive einer Mutter von sieben Kindern gesprochen, auch jüngere Politikerinnen wie beispielsweise Manuela Schwesig, Franziska Giffey oder Clara Geywitz tun das keineswegs in demselben Ausmaß wie Baerbock.
Auch wenn das Ganze natürlich eine private Komponente hat und es jeder Mutter wie jedem Vater unbedingt selbst überlassen bleibt, wie oft man seine Kinder sehen will: Bei allen drei Frauen spielt der Faktor Zeit natürlich eine entscheidende Rolle – wie bei jedem anderen Elternteil auch. Spitzenpolitikerinnen oder Spitzenpolitiker haben nicht selten einen Zehn-und-mehr-Stunden-Tag, über den Kalender bestimmen sie meist nicht mehr selbst, Termine reihen sich mitunter im Minutentakt aneinander. Da bleibt kaum Zeit für Partner, Freunde, Kinder.
Und so wird das private Problem Zeitknappheit für Ministerinnen eben auch politisch: Hat Anne Spiegel neben ihrer Familie die Zeit gefehlt, um sich um die Folgen der Flutkatastrophe ausreichend zu kümmern? Oder war es andersrum: Fehlte ihr wegen des Amtes die Zeit für ihre Familie? Nahm Christine Lambrecht ihren Sohn auf Reisen mit, um ihn für ihre häufigen Abwesenheiten zu entschädigen? Redet Annalena Baerbock deshalb so häufig über Kinder, weil sie ihre eigenen – zumal auf den vielen Auslandsreisen – schlicht vermisst? Vorstellbar wäre das genauso wie es nachvollziehbar ist.
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