Ihre größten Schätze versteckte Yang Sae-byul in einem Schrank zwischen Decken. CDs mit südkoreanischer Musik lagerte sie dort, verboten und mit strengen Strafen belegt in ihrer Heimat Nordkorea. Die Sicherheitskräfte inspizierten laut Yang mehrmals das Haus ihrer Familie und warnten sie. Doch sie fanden nichts, und Yang sagt heute: „Je mehr sie es mir verbaten, desto mehr wollte ich die Lieder hören.“

Yang ist 19 Jahre alt. Sie kann nun der Musik lauschen, die sie schön findet, und die Filme schauen, die sie mag. Sie lebt in Seoul. Sie mag das gebratene Hühnchen in der südkoreanischen Hauptstadt und wundert sich bereits nicht mehr über die Lichter der Stadt, die 24 Stunden leuchten. Ihre schwarzen Haare trägt sie schulterlang, ihren Pony hat sie mit einem Lockenwickler rund geformt, ihre Lippen sind leicht rot geschminkt. Sie sieht aus wie viele südkoreanische Teenager.

Katharina Peters

Yang Sae-byul

Und doch fühlt sie sich, acht Jahre nach ihrer Flucht aus Nordkorea über den zugefrorenen Yalu-Grenzfluss, manchmal noch immer „anders“, wie sie sagt. „Meine südkoreanischen Freunde haben nicht erlebt, wie es sich anfühlt, wenn das eigene Leben bedroht ist. Diese Angst, dass sie mich erwischen“, sagt sie. Durch China flüchtete sie mit ihrem Bruder nach Laos und Thailand und schließlich nach Südkorea.

Fremd in der Freiheit

Es geht ihr wie vielen nordkoreanischen Flüchtlingen, die zwar erleichtert sind, endlich in Freiheit zu leben, für die das Ankommen aber dennoch nicht leicht ist. Mehr als 30.000 sogenannte Überläufer wohnen derzeit in Südkorea. Yang Sae-byul besucht die Yeo-Myung-Schule, eine von zwei staatlich unterstützten Spezialschulen in Seoul für nordkoreanische Jugendliche.

Die 94 Schüler werden in regulären Fächern unterrichtet, wie etwa Mathematik oder Englisch. Das Institut hilft ihnen aber auch, sich zurechtzufinden im Alltag – das kann der Umgang mit Kreditkarten sein, aber auch Ausflüge, um Südkoreas Kultur kennenzulernen oder Berufsberatung.

Psychologen unterstützen die Lehrer. Denn wie Yang müssen die Jugendlichen oft traumatische Fluchterfahrungen verarbeiten. Viele sorgen sich um Verwandte, die sie im Norden zurückgelassen haben. Zwei Drittel der Schüler leben nur mit ihrer Mutter in Seoul. 15 Prozent sind ohne Eltern in Südkorea.

Nicht selten plagt die jungen Menschen auch das Gefühl, in der Gesellschaft keinen Platz zu haben – und damit einher geht die Angst vor der Zukunft.

„Es ist wichtig, dass sie lernen sich zu öffnen. Wenn sie jetzt nicht aus sich herauskommen, ist es irgendwann zu spät“, sagt Lee Eunmo, der seit drei Jahren Mathematik an der Schule unterrichtet. Er beobachtet, dass seine Schüler oft Furcht haben, neue Menschen kennenzulernen.

„Sie versuchen, ihre Herkunft zu verstecken“

Immer erlebt er, dass Nordkoreaner von regulären Schulen zur Yeo-Myung wechseln, weil sie sich ausgegrenzt fühlten oder fürchteten, Opfer von Mobbing zu werden. „Sie versuchen, ihre Herkunft zu verstecken“, sagt Lehrer Lee. Aber ihre Sprache verrate sie, nach 74 Jahren der Teilung unterscheiden sich viele Wörter in Nord- und Südkorea.

Nordkoreaner haben mit Vorurteilen zu kämpfen. Sie seien faul und ruhten sich auf Steuergeldern aus, seien nicht fähig, in der kapitalistischen Gesellschaft zu bestehen, so lautet ein Stereotyp bei älteren Menschen, erklärt Park Sokeel von der Organisation Liberty in North Korea (LiNK), die nordkoreanischen Flüchtlingen hilft. Bei jungen Südkoreanern bemerkt er, wie wenig sie über Nordkorea wüssten und wie desinteressiert sie an dem Thema seien – und damit gleichgültig gegenüber den Schicksalen der „Überläufer“.

Wer mit jungen Südkoreanern spricht, sieht sich bestätigt: In der Schule, sagen sie, hätten sie wenig über das Leben im Norden erfahren.

Ein Bild in der Schule, unterschrieben von einem ehemaligen südkoreanischen Bildungsminister

Katharina Peters

Ein Bild in der Schule, unterschrieben von einem ehemaligen südkoreanischen Bildungsminister

Doch das soll sich nun offenbar ändern – ganz im Sinne der Annäherung auf höchster politischer Ebene. „Entscheidend und dringend“ sei ein neuer Lehrplan, mahnte Vereinigungsminister Cho Myoung-gyon im vergangenen November. Mit einem einjährigen Programm soll nun Personal ausgebildet werden, das künftig an Schulen speziell zum Thema Nordkorea lehren soll.

Im Dezember sprach sich Cho zudem für mehr Austausch und Kooperation zwischen den koreanischen Staaten aus, damit „alle Menschen, auch die junge Generation, versteht, dass die Wiedervereinigung sie direkt betrifft“.

Wie sieht das Leben auf der anderen Seite aus?

Park Sokeel von der Hilfsorganisation LiNK hält diese Bemühungen für wichtig. Der politische Wandel werde auch zu mehr Kontakt mit Nordkorea führen. „Das bedeutet, dass wir verstehen sollten, wie das Leben auf der anderen Seite aussieht. Junge Flüchtlinge sollten an Schulen gehen, um ihre Geschichten zu erzählen.“

Die Schüler der Yeo-Myung-Schule nehmen bereits regelmäßig an Treffen mit Jugendlichen von anderen Schulen teil. Davon profitieren beide Seiten: Die 19 Jahre alte Yang Sae-byul sagt, dieser Austausch habe ihr geholfen, auf andere zuzugehen. Sie träumt davon, nach ihrem Abschluss Medizin zu studieren.

Anderen Schülern bleibt dieser Weg versperrt: Bei manchen rufen Angehörige aus Nordkorea an und bitten um finanzielle Hilfe für die Flucht. Drei oder vier Schüler brechen pro Jahr die Schule ab, um Geld zu verdienen.

„Frieden, Wohlstand, Wiedervereinigung“

Schulleiter Lee Hung-hoon ist wegen des politischen Klimas dennoch positiv gestimmt. Die Jugendlichen sollen ein aktiver Teil der koreanischen Versöhnung sein, das ist das erklärte Ziel der Yeo-Myung-Schule, die von christlichen Gruppen finanziell unterstützt wird. „Wir helfen den Schülern, als Menschen zu wachsen“, sagt Direktor Lee, „und hoffen, dass sie mithelfen bei der Gestaltung von Frieden, Wohlstand und Wiedervereinigung.“

Hung Moon Lee

Katharina Peters

Hung Moon Lee

Die Versöhnung mit dem Norden ist das große außenpolitische Projekt von Südkoreas Präsidenten Moon Jae-in. Drei Mal hat Moon den nordkoreanischen Machthaber Kim Jong Un im vergangenen Jahr getroffen. Seine Regierung träumt von Zugverbindungen in das Nachbarland und sogar von Flugverbindungen, die unter den jetzigen Sanktionen wegen des nordkoreanischen Atomwaffenprogramms allerdings noch nicht möglich sind.

Als Moon im September in die nordkoreanische Hauptstadt Pjöngjang reiste, hätten die Schüler die Fernsehübertragung zusammen gesehen, sagt Mathematiklehrer Lee. Im Unterricht sprächen die Jugendlichen nicht gern über ihre Erfahrungen und Gefühle. „Aber als wir die Bilder aus Pjöngjang sahen, kullerten bei einigen die Tränen über die Wangen.“

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