Zwischen Pappkartons, Planen und Plastikflaschen haust Annick Toudji. Es stinkt nach Urin, von oben ist er den Hang herabgeronnen, vorbei an wackeligen Zelten, vorbei an den Steinen, zwischen denen Annick Toudji gleich Feuer machen will. Der beißende Geruch hängt ständig in der Luft.
Toudji, 33, groß und hager, hockt auf einem Baumstumpf. Mit kurzen, entschlossenen Hieben schneidet sie ihre Fleischtomate in einen Topf. „Das ist unser Dschungel“, sagt sie. Im Dschungel gibt es keine Toilette, keinen Strom. Stattdessen gibt es: Ratten, Kakerlaken, Krätze.
Tausende Migranten vegetieren hier auf der griechischen Insel Samos vor sich hin. Toudji ist eine von ihnen, vor knapp einem Jahr begann ihre Flucht aus Kamerun. Die Migranten passen nicht mehr in das offizielle Flüchtlingslager auf Samos. Schon lange quillt es über, links und rechts kam Zelt um Zelt hinzu. So entstand der Dschungel.
Annick Toudji im Dschungel von Samos. Dreimal am Tag gibt es Tiefkühlkost. Wer etwas anderes essen will, muss es sich selbst besorgen.
Mehr als 3800 Migranten leben derzeit am Hang und im Lager, das für nur 648 Personen ausgelegt ist. Kein anderer sogenannter Hotspot auf den ägäischen Inseln ist so überfüllt. Die Migranten dürfen nicht weg, Samos hat sich in ein Gefängnis verwandelt. Die Situation sei außer Kontrolle, urteilt die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen.
Der Grund dafür liegt drei Jahre zurück. Im Frühling 2016 schloss die Europäische Union mit der Türkei ein informelles Abkommen. Die Grundzüge des Deals lauten:
- Die Türkei soll die Migranten von der EU fernhalten – und dafür sechs Milliarden Euro von der EU bekommen.
- Die griechische Regierung erhält ebenfalls Unterstützung von der EU; im Gegenzug hält sie Migranten auf den fünf Inseln in der Ägäis fest und bringt solche ohne Recht auf internationalen Schutz anschließend in die Türkei zurück.
- Die EU nimmt für jeden Syrer, der in die Türkei zurückgeschickt wird, einen anderen syrischen Flüchtling auf legalem Weg auf.
Angela Merkel drückte die Absprache gegen alle Widerstände in Europa durch, der Pakt ist vor allem ein Projekt der deutschen Kanzlerin. Das pragmatische Ziel: Migrationskontrolle ermöglichen und gleichzeitig nicht allzu inhuman auftreten. Folgt man Merkel, ist der Deal ein Vorzeigeprojekt; in anderen Staaten wie Ägypten, Marokko und Tunesien würde sie gerne ähnliche Absprachen treffen. Dabei geht es auch um ihr außenpolitisches Vermächtnis, selbst die EU-Kommission preist den Pakt als „Game changer“ – und erklärte die Migrationskrise in einem Merkblatt jüngst für beendet.
Hier beginnt der Dschungel – ohne Toiletten oder Strom, aber mit Ratten, Kakerlaken, Krätze.
Auf Samos zeigt sich, wie falsch das ist. Die Migrationskrise ist nicht überwunden, sie konzentriert sich vielmehr unter anderem auf den fünf Inseln in der Ägäis. Dort kommen zwar weniger Menschen an als zum Höhepunkt der Krise – doch sie leiden mehr. Das Anti-Folter-Komitee des Europarats kritisierte Griechenland kürzlich für seinen Umgang mit Migranten und Flüchtlingen.
Und weil der EU-Türkei-Deal auch nach drei Jahren noch nicht funktioniert, will selbst die griechische Regierung den Pakt nach SPIEGEL-Informationen ändern. Die Zustände auf Samos werfen außerdem die Frage auf, ob die EU weitere Abkommen nach dem Muster des Pakts mit der Türkei abschließen sollte. Schließlich kann sie nicht mal in Lagern innerhalb der EU für menschenwürdige Bedingungen sorgen.
Im Dschungel hat sich eine Frau zu Annick Toudji gestellt; regungslos, die Hände in den Taschen ihrer Winterjacke vergraben, schaut sie Toudji zu. Vanessa Djila, 19, ist wie Annick aus Kamerun geflohen. In ihr rundliches Gesicht hat sie sich eine Creme geschmiert, sie soll den heftigen Ausschlag verdecken. „Die Pickel kommen von der Angst“, sagt Djila.
Am unteren Ende des Dschungels, wenige Minuten von Samos Stadt entfernt, leben Edna Abiabie, 24, und Emon Tabi, 23. Beide kommen aus Kamerun.
Angst hat Djila seit einer Nacht im Februar. In der Dunkelheit drangen mehrere Männer in ihr Zelt ein. Sie trugen Masken, vergewaltigten die junge Frau. Ein Untersuchungsbericht des Krankenhauses stützt ihre Schilderung. Seit der Nacht im Februar trinkt sie jeden Abend Whisky, nur so kann sie schlafen.
Annick Toudji kennt Vanessa Djilas Geschichte. Sie würde die 19-Jährige gern beschützen, Vanessa sei ihre Sister. „Das hier ist kein guter Ort“, sagt Toudji. „Besonders für Frauen nicht.“ Nachts, wenn die wilden Hunde oben am Hang jaulen, trauen sie sich nicht aus ihren Zelten – aus Angst, von anderen Migranten überfallen zu werden. Wenn sie auf Klo müssen, pinkeln sie in eine der Plastikflaschen, die überall herumliegen.
Am Abend sitzt Toudji auf einer kalten Steintreppe in einem engen Reihenhaus in Samos Stadt, der Stadt unterhalb des Camps. Hier hat ein griechischer Anwalt aus Lesbos für eine Woche ein Büro gemietet. Nach einem Besuch im Camp vertritt der Mann bereits 41 Klienten. Annick Toudji wartet nun seit zwei Stunden, dass sich die Tür zu seinem Büro öffnet. Nervös rutscht sie auf der Steinstufe hin und her und erzählt mit leiser Stimme ihre Geschichte.
Annick Toudji, 33: „Mich haben die Männer im Busch gefunden und vergewaltigt“
Die Familie Toudji stammt aus Bambili, einem kleinen Ort im Nordwesten Kameruns. Hier kämpfen Separatistengruppen seit Jahren gegen das Militär. Auf ihrem Handy zeigt Annick Toudji Fotos von dem abgebrannten Haus ihrer Familie. Ein Balken, ein Stück Dachpappe, mehr ist nicht geblieben. Die Rebellen hätten ihren Vater und ihre Mutter getötet, der Bruder sei geflohen, vermutlich nach Nigeria. „Mich haben die Männer im Busch gefunden und vergewaltigt“, sagt sie. „Immer wieder.“ Seitdem kämpft sie mit Infektionen, langes Sitzen schmerzt.
Ihre Flucht führte die Kamerunerin per Flugzeug in die Türkei, zu einem Onkel. Monate verbrachte sie an der türkischen Westküste, nähte Knöpfe an Hemden und Blusen. Dann habe der Onkel von ihr verlangt, dass sie sich prostituiere. Deswegen sei sie auf das Boot eines Schmugglers gestiegen. So erzählt es Annick Toudji, nachprüfen lässt sich das nicht. Von Samos wusste sie damals nichts. Aber in Europa, so dachte Annick Toudji, könnte ihr Leben wieder besser werden.
Nun hängt Toudji seit Anfang des Jahres im Dschungel fest. Wenn es regnet, läuft ihr Zelt voll Wasser. Dreimal pro Tag muss sie sich in die Schlange vor der Essensausgabe stellen. Zwei, drei Stunden dauert es dann, bis sie die aufgewärmte Tiefkühlkost bekommt. Nachts plagen sie Panikattacken und Albträume. Die Träume suchten sie schon heim, bevor sie nach Samos kam. Der Dschungel machte es schlimmer.
Die Grenze zwischen dem Dschungel und dem offiziellen Teil des Camps. Der Stacheldraht zieht sich fast über den gesamten Hang.
Das offizielle Flüchtlingslager sieht Annick Toudji nur selten von innen. Journalisten dürfen es nicht betreten, werden von der Polizei festgesetzt, wenn sie Filmaufnahmen machen oder dem Stacheldraht zu nahe kommen. Videos der Migranten zeigen, wie es im Inneren aussieht: Die Zelte sind stabiler als im Dschungel. Und es gibt Duschen und Toiletten, aber auch dort liegen Plastikflaschen in der Ecke, Boden und Wände schimmeln vor sich hin.
Neben dem Stacheldraht hängt der Lautsprecher, der den Rhythmus des Camps vorgibt. Aus ihm knarzt die Stimme der Camp-Mitarbeiterin. Wer aufgerufen wird, muss herbeieilen, sonst verstreicht die Chance auf eine Asylanhörung.
Auf diesen Termin warten die Asylbewerber oft jahrelang. Es fehlt an griechischen Übersetzern, die Farsi oder Urdu sprechen. Eine afghanische Familie, die im unteren Teil des Camps lebt, kann deshalb erst 2021 angehört werden. Vermerkt ist das Datum auf einem blauen Papierlappen. „Ausweis“ nennen die Migranten ihn. Ein deutsches Wort, mitten im Dschungel.
Migranten auf Samos: „Ich fühle mich, als würde ich meine Seele verlieren“
Mehrmals können abgelehnte Asylbewerber in Griechenland Einspruch einlegen. Ungefähr 20.000 Asylbewerber könne Griechenland pro Jahr stemmen, schätzt das griechische Migrationsministerium. 2018 waren es dreimal so viele, die höchste Pro-Kopf-Quote eines EU-Landes.
Die ineffiziente griechische Bürokratie ist damit überfordert – und das, obwohl 2019 in den ersten drei Monaten des Jahres weniger Migranten ankamen als an einem einzigen Tag im Jahr 2015. Denn die Türkei erfüllt ihren Teil der Abmachung: Sie hält Flüchtlinge größtenteils von der Überfahrt auf die Inseln ab. Der Unterschied: Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise winkten die griechischen Behörden die Migranten nur durch, oft ohne Asylverfahren.
Der Deal zwischen der Türkei und der EU beendete diese bequeme Praxis. Seitdem müssen die Migranten auf den Inseln bleiben – und die griechischen Behörden haben mehr Arbeit.
Auch der wichtigste Baustein des EU-Türkei-Deals funktioniert nicht. Eigentlich sollte Griechenland alle Migranten ohne Recht auf Asyl in Griechenland schnell wieder in die Türkei bringen – innerhalb von 25 Tagen. Doch das geschieht kaum. Bis Anfang April schob die Migrationsbehörde gerade einmal 41 Menschen ab. Nach eigener Aussage, weil die Migranten als schutzbedürftig eingestuft worden waren und die Insel deshalb verlassen durften. Oder weil plötzlich doch noch ein Dokument fehlte.
Wer trägt die Schuld an dem Chaos? Die EU-Kommission und die griechischen Behörden machen sich gegenseitig Vorwürfe. Für die EU ist insbesondere die Rückführung der abgelehnten Asylbewerber wichtig, um potenzielle Migranten abzuschrecken, sie hält weiter an dem Pakt mit der Türkei fest. „Wir haben die griechischen Behörden wiederholt auf die sehr herausfordernde Situation auf den griechischen Inseln hingewiesen“, sagt eine Sprecherin der EU-Kommission.
Griechenland müsse eine effektive und nachhaltige Strategie entwickeln, um die Migration zu ordnen. Schließlich habe das Land inzwischen mehr als zwei Milliarden Euro an Hilfe erhalten. Die „Welt am Sonntag“ zitierte aus einem Bericht der deutschen Botschaft in Athen, demnach soll Simon Mordue, der für den Pakt mit der Türkei zuständige Europa-Beamte, die Situation als „Schande für Europa“ bezeichnet haben. Fest steht: In Europa wächst die Ungeduld mit der griechischen Regierung.
Gerald Knaus, der Vorsitzende des Thinktanks „Europäische Stabilitätsinitiative“ (ESI) und Architekt des EU-Türkei-Flüchtlingsdeals, ist überzeugt, dass eine Verbesserung der Lebensbedingungen für Flüchtlinge auf den griechischen Inseln nicht an fehlenden Ressourcen scheitert – sondern an der Blockadehaltung der verantwortlichen Politiker. Griechenland nehme die miserablen Zustände auf den Inseln bewusst in Kauf, sagt Knaus. „Die Tsipras-Regierung will Flüchtlinge abschrecken, indem sie Neuankömmlinge schlecht behandelt.“
Da die Zahl der Überfahrten seit Abschluss des Abkommens vor drei Jahren stark gesunken sei, gebe es auch in Europa sonst niemanden, der sich des Themas annehme. „Es fehlt schlicht der politische Wille, das Elend der Flüchtlinge in Griechenland zu lindern.“
Im griechischen Migrationsministerium bestreitet man das. Griechenland könne nicht die gesamte Last schultern, heißt es dort. „Unsere Ressourcen sind endlich.“ Der EU-Türkei-Deal sei nur als vorübergehende Notfallmaßnahme geplant gewesen. „Der Notfall ist Vergangenheit, der Pakt sollte es daher auch sein“, sagt ein zuständiger Beamter dem SPIEGEL. Die griechische Regierung möchte stattdessen, dass andere EU-Staaten Griechenland künftig Asylbewerber abnehmen und die Asylverfahren im eigenen Land durchführen.
Zwei Afghanen beginnen mit dem Zeltbau. Nicht alle Migranten bekommen ein Zelt, wenn sie ankommen, viele stützen die Planen mit Kartons und Stöcken.
Mit Portugal hat die griechische Regierung bereits ein bilaterales Abkommen geschlossen, das nach diesem Prinzip funktioniert. Darin hat sich die portugiesische Regierung verpflichtet, bis zu 1000 Asylbewerber aufzunehmen. Sie sollen in Griechenland registriert und später von portugiesischen Beamten angehört werden.
Der Plan würde dem sogenannten Umverteilungsverfahren ähneln, mit dem einige EU-Staaten ab 2015 Italien und Griechenland geholfen haben, damals allerdings noch auf freiwilliger Basis. Diese Vereinbarung ist inzwischen ausgelaufen. Dass ein solcher Mechanismus neu aufgelegt wird, ist unwahrscheinlich. Selbst nach den Wahlen zum EU-Parlament Ende Mai dürften Staaten wie Ungarn und Polen ihn weiter blockieren.
Die Sonne ist bereits untergegangen, als Vanessa Djila und Annick Toudji im kargen Büro des Anwalts sitzen. Fünf Stühle und zwei winzige Schreibtische hat er auf zehn Quadratmeter gequetscht. Die Luft ist stickig; der Anwalt, Toudji, Djila – alle schweigen. Gerade hat Vanessa von der Nacht erzählt, in der die Männer sie vergewaltigt haben. Niemand habe ihr geholfen, sagt sie. Die einzige Psychologin des Camps habe sie nach wenigen Minuten wieder weggeschickt.
Anwalt Emmanuel Chatzihalkias, 53, im Gespräch mit Annick Toudji
Annick Toudji schaut gegen die Wand, in ihren dunklen Augen schimmern Tränen. Als sie endlich an der Reihe ist, sagt sie etwas, das selbst Vanessa Djila noch nicht weiß: Vor zwei Tagen, nach Monaten im Dschungel, hat sie eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen. „Ich habe Asyl.“
Sie sei schon bei der Polizei gewesen, sagt Toudji. Um ihren neuen Ausweis zu beantragen. Aber man habe sie weggeschickt. Sie solle in zwei Wochen wiederkommen. Auch im Camp habe man ihr gesagt, dass sie lieber warten solle, bis das UNHCR eine Wohnung für sie auf dem Festland habe.
„Du bist frei!“
Soll sie trotzdem nach Athen? Ganz allein, ohne Job, ohne Bleibe? Auch dort würde sie wohl die 150 Euro pro Monat bekommen, die sie schon im Camp erhalten hat. Aber das reicht kaum zum Überleben. Vielleicht würde sie auch irgendwann eine Wohnung finden. Aber sicher ist das nicht. Und wie soll sie sich in Athen durchschlagen, wenn sie nicht mal den Unterschied zwischen „Kaliméra“ (Guten Morgen) und „Kalispéra“ (Guten Abend) kennt? „Ich fürchte mich“, sagt Annick Toudji. „Vielleicht muss ich bleiben.“
„Annick“, ruft der Anwalt. „Hast du einen blauen Stempel auf deinem Ausweis?“
„Ja“, sagt Annick Toudji leise.
„Dann geh, Annick, geh“, ruft der Anwalt. „Du bist frei! Du brauchst die Polizei nicht. Auch wenn du keine Wohnung und kein Geld bekommst – alles ist besser als das hier.“
Annick Toudji schaut ihn an, sagt nichts, schaut Djila an. Alle Energie scheint aus ihrem Körper gewichen. Vorsichtig rutscht sie auf dem Plastikstuhl nach vorne.
„Wenn sie mir diesen Stempel wieder wegnehmen“, sagt sie, „dann gehe ich ins Wasser.“
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