Kommentar

Donald Tusk hat ja recht. Es gibt keinen Zweifel daran, dass der Streit um verbindliche Quoten für die Aufnahme von Flüchtlingen Europa tief gespalten hat. Auch über zwei Jahre nach jenem Septemberwochenende im Herbst 2015, als Kanzlerin Angela Merkel die Grenzen für Flüchtlinge öffnete, die zwischen dem Budapester Bahnhof und österreichischen Autobahnen hin und her irrten, gibt es zwischen den EU-Mitgliedstaaten keinen Konsens darüber, wie man künftig mit ähnlichen Krisen fertig werden könnte.

Die Verhandlungen über einen sogenannten permanenten Verteilmechanismus im Krisenfall schleppen sich seit Monaten, das heikle Dossier wird von einer Ratspräsidentschaft zur nächsten weitergereicht. Eine der wichtigsten Herausforderungen für Europas Zukunft landet so regelmäßig in der Ablage für Wiedervorlage. Niemand glaubt, dass nun ausgerechnet Bulgarien schafft, woran Malta und Estland gescheitert sind, und einen Konsens hinbekommt. Das Land hat ab Januar die rotierende EU-Ratspräsidentschaft inne.

Europas Krise ist längst nicht überwunden

In einer Note, die seinem Einladungsschreiben für den EU-Gipfel heute Nachmittag in Brüssel beigefügt war, hat Tusk dieser Skepsis nun Ausdruck verliehen. Der Mann hat aufgeschrieben, was in Brüssel jeder weiß: Die EU mag bei den Brexit-Verhandlungen mit Großbritannien geeint erscheinen, und ja, auch die vom Trump-Schock erzwungenen Beschlüsse zu mehr gemeinsamen Verteidigungsanstrengungen darf man loben – doch hinter dieser Fassade der Einigkeit bröckelt das Fundament gemeinsamer Solidarität stetig weiter. Auch wenn die Staats- und Regierungschefs heute beim Gipfel eigentlich vorweihnachtliche Signale des Zusammenhalts senden wollten, die Krise der Europäer, sie ist längst nicht überwunden.

Das Problem mit Tusks Blick hinter die Fassade ist nur, dass ausgerechnet der Ratspräsident, der eigentlich dafür sorgen soll, dass die EU-Staaten zu Kompromissen finden, zum Kronzeugen jener Extrem-Fraktion zu werden droht, die sich einer Aufnahme von Flüchtlingen weiterhin strikt verweigert. Ungarn, Polen und Tschechien denken gar nicht daran, die im Herbst 2015 mehrheitlich gefassten Beschlüsse zu befolgen und sind daher soeben von der EU-Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt worden. Ausgerechnet ihnen liefert nun der Ratspräsident Argumente, sich weiter jeder Solidarität zu entziehen. Tusk verhält sich wie ein Schiedsrichter, der einer Mannschaft, die nicht richtig mitspielen will, zur Belohnung auch noch einen Elfmeter schenkt. Ersten großen Applaus bekommt er daher von einer erwartbaren Adresse – Ungarns Außenminister.

Natürlich war das nicht Tusks Absicht. Und es tut auch gut, wenn zumindest ein Brüsseler Spitzenpolitiker ab und zu mal eine unangenehme Wahrheit ausspricht. Allerdings ist Europa nach Tusks Kassandrarufen einer Lösung der Flüchtlingskrise keinen Schritt nähergekommen. Angesichts der gewaltigen Flüchtlingsströme, mit denen aus Afrika weiterhin zu rechnen ist, reicht es nicht, Europas Abschottung zu predigen. Die EU muss Wege finden, das gescheiterte Dublin-System, wonach die Staaten, in denen die Flüchtlinge zum ersten Mal Europa betreten für deren Asylverfahren und Unterkunft verantwortlich sein sollen, für die Praxis tauglich zu machen. Sonst bricht in Italien und Griechenland bei der nächsten Hungersnot in Afrika gleich wieder das Chaos aus.

Wer niemanden aufnehmen will, kann sich freikaufen

Die Bundesregierung muss sich in dieser Sache keine Vorwürfe gefallen lassen. Sicher, Merkels Flüchtlingspolitik hat die Nachbarn am Anfang verstört und, ja, gespalten. Folgerichtig scheitere ihre anfängliche Idee, Flüchtlinge zu verteilen, ohne Europas Außengrenzen ausreichend zu sichern. Doch in den vergangenen Monaten haben sich deutsche Diplomaten in Brüssel durchaus kompromissbereit gezeigt. Wer partout lieber keine Flüchtlinge aufnehmen will, soll sich durch andere Formen der Solidarität bis zu einem gewissen Grad freikaufen können, etwa indem er zusätzlich Polizisten für die Grenzschutzmission Frontex bereitstellt. Entsprechend medienwirksam verkünden Visegrad-Staaten wie Polen und Ungarn heute, dass sie neue Millionen für den EU-Afrikafonds bereitstellen wollen. Auf eines aber will Berlin bis heute nicht verzichten: ein Mindestmaß an Solidarität unter Europäern, wenn es darum geht, die Lasten eines möglichen neuen Ansturms zu teilen.

Im Video: EU-Flüchtlingskommissar attackiert Donald Tusk

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Europäische Kommission

Diese Idee ist und bleibt richtig. Natürlich ist der Verteilschlüssel allein keine Lösung für die Flüchtlingskrise. Daneben braucht es einen ganzen Mix von Maßnahmen, die Asylzentren, die Frankreichs neuer Präsident Emmanuel Macron in Nordafrika vorschlägt, mögen dazu gehören, vielleicht ein Deal mit Libyen nach Vorbild der Türkei, wenn es in Tripolis mal eine Regierung mit Autorität geben sollte, und ja, auch faire Handelschancen für die Mittelmeeranrainer Tunesien oder Marokko im europäischen Binnenmarkt, um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Zur Wahrheit gehört aber eben auch, dass die Länder an der EU-Außengrenze Flüchtlinge nur dann registrieren und unterbringen, wenn sie sich darauf verlassen dürfen, dass ihnen der Rest der EU im Notfall zur Hilfe kommt.

Vielleicht sollte man Ungarn und andere mal daran erinnern, dass jener Solidaritätsgedanke auch hinter den vielen Milliarden steckt, den die EU diesen Ländern jedes Jahr als Regionalbeihilfen überweist: Die Europäer helfen sich gegenseitig, um die Lebensverhältnisse langsam anzugleichen. Diese Solidarität muss auch bei der Flüchtlingskrise gelten – und zwar für jeden.

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