Am 13. November ist ein Jahr vergangen, aber Frankreich tut sich noch immer schwer mit der Erinnerung an die Pariser Attentate. 130 Menschen starben damals, mehr als 350 wurden verletzt. Doch bis heute stehen nicht die Betroffenen, die Opfer und die stillen Helden im Mittelpunkt. Stattdessen beherrschen die politischen Scharfmacher die Debatte: Ex-Präsident Nicolas Sarkozy, Front-National-Chefin Marine Le Pen und der neue Medienliebling unter den Pariser Intellektuellen, Bestseller-Autor Éric Zemmour. Dessen Bücher malen den Untergang der eigenen Nation als Ergebnis einer fehlgeleiteten und naiven linken 68er-Kultur an die Wand. „Ich respektiere die Leute, die für das sterben, woran sie glauben – wozu wir nicht mehr fähig sind“, sagt Zemmour. Der Terror dient ihm als Beleg für seine Thesen.
Daniel Pszenny, 56, kann Sprüche wie die von Zemmour nicht mehr ertragen. Der Journalist lebt seit 30 Jahren in einer Etagenwohnung direkt gegenüber dem Konzertsaal Bataclan, einem der Anschlagsorte. Am Abend des 13. November 2015 war er allein zu Haus, hörte Schüsse und Schreie, öffnete das Fenster und sah Tote und Verletzte auf der Straße liegen. Als es draußen ruhiger wurde, schlich er hinaus und zog einen der Verletzten in seinen Hauseingang. „Du bist mein Engel“, flüsterte der Mann, der ohne die Hilfe seinen Blutungen erlegen wäre. Doch einer der drei Terroristen, die das Bataclan gestürmt hatten, erspähte Pszenny bei seiner Rettungsaktion, zielte auf ihn und schoss. Pszenny wurde schwer am Oberarm getroffen, mithilfe von Nachbarn konnte er den Verletzten und sich selbst notdürftig verarzten. Das rettete beiden das Leben.
„Viele sagen, unsere verwöhnten westlichen Gesellschaften sind wehrlos im Kampf gegen den islamischen Terrorismus“, sagt Pszenny heute. „Aber wir waren am Tag der Attentate keine Memmen. Wir haben unser Leben riskiert.“
Neben ihm in der Etagenwohnung sitzt Didi, einer der anderen stillen Helden von damals. Didi, 36 und heute Franzose, war vor einem Jahr noch Algerier und Sicherheitschef des Bataclan. Den Job machte er seit zwölf Jahren. Aufgrund von Internet-Drohungen von Islamisten verschweigt er bis heute seinen vollständigen Namen. Am Abend des 13. November hatte Didi Dienst, sah, wie sich die drei Terroristen, alle algerischer Abstammung wie er, den Weg zum Konzertsaal mit Maschinengewehren freischossen. Drinnen befanden sich 1.500 Besucher. Er hätte, wie andere, die Flucht ergreifen können. Stattdessen öffnete er die Notausgänge.
„Ich schmiss mich wie andere zwischen die Toten und bewegte mich nicht“, erzählt Didi. Als dann die Terroristen eine Feuerpause einlegten, sprang er auf und rief die Leute zur Flucht auf. Hunderte entkamen. Während der anschließenden zweistündigen Geiselnahme kehrte Didi mehrfach in den Konzertsaal zurück, duckte sich im Kugelhagel und verhalf Einzelnen zur Flucht. Niemand handelte in der Nacht der Attentate so mutig wie er.
„Didi ist Teil der französischen Geschichte. Es lebe Didi! Es lebe die Republik! Es lebe Frankreich!“, verkündete Monate später Innenminister Bernard Cazeneuve, als er dem Retter vom Bataclan die französische Staatsbürgerschaft und die höchste Medaille des Innenministeriums verlieh. Doch die Ehrung kam spät. Erst der Internet-Aufruf einer engagierten Lehrerin, der 100.000 Unterschriften erhielt, für den „vergessenen Helden des Bataclan“, brachte Didis Taten ins breitere Licht der Öffentlichkeit. Unmittelbar nach den Anschlägen hatte er nämlich nicht als Held getaugt: ein algerischer Mann, jung, athletisch, schwarz gekleidet, mit Dreitagebart – Didi ähnelte zu sehr den Tätern.
„Didis Handeln belegt die Wehrhaftigkeit unserer gemischten Gesellschaft“, sagt Daniel Pszenny. Wie viele Überlebende aus dem Umfeld des Bataclan repräsentieren die beiden Männer, die zu Lebensrettern wurden, genau die linke, scheinbar verweichlichte Kultur, die Kritiker wie Zemmour für den drohenden Untergang Frankreichs verantwortlich machen.
Am 16. November soll das Bataclan mit einem Konzert des britischen Rockmusikers Peter Doherty wiedereröffnet werden. Didi und Daniel Pszenny werden dabei sein, danach wollen sie gemeinsam verreisen. Weit weg von Paris, sagen sie.
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