Griechenland stellt sich gegen den Trend. Während in vielen Ländern Europas populistische, nationalistische Parteien hinzugewonnen haben, feiern sich dort konservative, etablierte Parteien als große Sieger der Europawahl.
2015 hatte der Zorn der Wähler auf die Sparpolitik und das politische Establishment Syriza an die Macht gebracht, die linksradikale Partei von Ministerpräsident Alexis Tsipras. Diese Wut hatte jedoch auch der rechtsextremen Partei Goldene Morgenröte neue Anhänger und Wähler beschert. In der vergangenen Nacht sind beide Parteien abgestürzt. Tsipras sah sich gezwungen, vorgezogene Neuwahlen auszurufen, nachdem die konservative Partei Nea Dimokratia (ND) triumphierte und die Sozialdemokraten den dritten Platz festigten.
Wie ist diese erstaunliche Wende zu erklären?
Die Meinungsumfragen hatten Tsipras Wahlniederlage seit Monaten vorhergesagt. Aber weder seine treuesten Unterstützer noch seine ärgsten Gegner hätten mit einer derartigen Schlappe gerechnet. Tsipras verlor nicht nur die Europawahl mit einem Abstand von neun Prozentpunkten auf ND – dem größten Abstand der jemals bei einer Europawahl in Griechenland gemessen wurde. Und das bei einer Wahl, die der Premierminister vorher zu einer Vertrauensabstimmung über seine Regierung erklärt hatte.
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Fraktionen, Sitzverteilung, Gewinne und Verluste: Die Ergebnisse im Detail
Bei den Kommunalwahlen, die ebenfalls am Sonntag stattfanden, haben auch die Syriza-Bürgermeisterkandidaten in Athen und Thessaloniki empfindliche Niederlagen erlitten. In diesen Metropolen leben rund 60 Prozent der griechischen Bevölkerung. Syriza hat fast alle Regionalwahlen verloren, die politische Landkarte Griechenlands hat sich am Sonntag blau gefärbt – der Farbe der Konservativen.
Diese Lehren lassen sich aus dem Wahlergebnis ziehen:
- Erstens: Die Zeiten sind vorbei, in denen sich Parteien mit Bargeldzahlungen, populären Maßnahmen und weltfremden Versprechungen den Wahlsieg in Griechenland sichern konnten. Im Wahlkampf hatte Tsipras einiges versucht: Er zahlte Rentnern einen Bonus und verteilte Hunderte Millionen Euro an verschiedene Wählergruppen. Tsipras hob den Mindestlohn an, steigerte die Zahl der Studienplätze. Es war nicht genug, um die Stimmung zu drehen.
- Zweitens: Tsipras, der politische Überlebenskünstler, hat seine Gegner unterschätzt – allen voran den konservativen Oppositionsführer Kyriakos Mitsotakis. Er irrte auch mit Blick auf frühere Weggefährten – wie beispielsweise Yanis Varoufakis. Tsipras‘ früherer Finanzminister holte mit seiner eigenen Partei rund drei Prozent der Stimmen, von denen wohl so manche andernfalls bei Syriza gelandet wäre.
Kyriakos Mitsotakis: Tsipras hat den Chef der Nea Dimokratia unterschätzt
- Drittens: Tsipras hat den politischen Preis des Mazedonien-Abkommens falsch eingeschätzt. Syriza verlor besonders in der griechischen Provinz Mazedonien, wo die Vereinbarung mit dem nördlichen Nachbarn, der sich jetzt „Nordmazedonien“ nennt, besonders unpopulär ist.
- Viertens: Syriza verliert die Mittelschicht. Akademiker, Kleinunternehmer und Selbstständige haben unter den hohen Steuern gelitten, mit denen Tsipras seinen Haushaltsüberschuss erwirtschaftet und Wahlgeschenke finanziert. Sie haben sich diesmal eher dem liberaleren Lager zugewandt.
Für den Anführer der griechischen Konservativen ist das Ergebnis ein persönlicher Triumph. Mitsotakis hat seine Partei und ihre konservativen, liberalen und rechten Strömungen zusammengehalten. Im Wahlkampf trat er pragmatisch auf, vermied unrealistische Wahlversprechen und konzentrierte sich auf die Themen Steuersenkungen, Investitionen, Reformen und Privatisierungen.
Nun steuert Griechenland auf Neuwahlen zu, höchstwahrscheinlich am 30. Juni. Dem Land dürfte das eher helfen. Hätte Tsipras sich entschlossen, seine Amtszeit voll auszuschöpfen, wäre erst im Oktober gewählt worden. Fünf Monate Wahlkampf würden der Wirtschaft schaden und neue Konflikte mit den Gläubigern auf EU-Ebene heraufbeschwören.
Tsipras braucht ein Wunder, wenn er nur einen Monat nach der krachenden Wahlniederlage vom Sonntag bei der Parlamentswahl siegen will. Sein einziger Hoffnungsschimmer: Trotz der Wahlschlappe steht Tsipras unangefochten an der Parteispitze. Er kann darauf hoffen, bei der Wahl Ende Juni wenigstens die absolute Mehrheit für die Nea Dimokratia zu verhindern.
Die gute Nachricht für die griechische Nation ist, dass sich die Wählerschaft in zehn Jahren Finanzkrise nicht in dem Maße radikalisiert hat, wie von vielen vorhergesagt wurde. Die griechischen Wähler sind klüger, als ihnen das mancher zugetraut hatte. Einfache Lösungen für komplexe Probleme haben ihren Wert verloren.
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