„Wir sind die progressivste Partei Deutschlands.“: Dieser Satz des politischen Geschäftsführers der Grünen, Michael Kellner, zu Beginn des Parteitags in Münster wirkt drei Tage nach dem Wahlsieg von Donald Trump wie eine trotzige Kampfansage. Eigentlich ist die Parole reichlich abgelutscht, in normalen Zeiten wäre sie wohl schnell verklungen. Aber was ist noch normal?

Progressiv. Liberal. Emanzipiert. Moralisch ambitioniert. Das ist die DNA der Grünen, die groß wurden aus dem Protest gegen eine männerdominierte Industriegesellschaft. 35 Jahre nach ihrer Gründung kann die Partei auf eine beispiellose Erfolgsgeschichte verweisen. Sie regiert in 11 von 16 Bundesländern, jeder Supermarkt führt heute Bioprodukte, Angela Merkel hat ihren Atomausstieg kopiert und ihre Arme für Flüchtlinge geöffnet, die CDU Vätermonate beim Elterngeld beworben. In Deutschland gibt es eine Frauenquote in Führungsetagen und die Einverdiener-Hetero-Ehe ist nicht mehr der einzig mögliche Lebensentwurf, der im Schulunterricht behandelt wird.

Aber dann kam Donald Trump, ein „Nationalist und Chauvinist“, wie ihn Parteichefin Simone Peter nennt, pöbelte gegen Frauen, Minderheiten und alle, die ihm nicht gefallen, und gewann die Wahl in dem mächtigsten Staat der Welt. Die Gewissheit, dass einer, der sich verhält wie Trump gesellschaftlich geächtet wird: Weggefegt.  Neuerdings ist es andersherum. Verbale Ausfälle, autoritäres Gehabe werden ganz offen als Führungsstärke gefeiert.

Was folgt daraus für die Grünen, die in Münster den aufziehenden Bundestagswahlkampf vorbereiten wollen? Die Überzeugungskraft liberalen Denkens sei in der Krise, sagt Grünen-Chef Cem Özdemir: „Vielleicht haben wir uns zu bequem eingerichtet. Wir haben geglaubt, dass wir alles erreicht haben. Aber vielleicht müssen wir alles, wofür wir gekämpft haben, in jeder Generation neu erklären.“

Auch in Deutschland wird der “ Trumpismus“ schließlich zunehmend gesellschaftsfähiger – und das vermeintliche „Gutmenschentum“ zum Feindbild erklärt. Ist das eine Chance für die Grünen, weil sie künftig ein Alleinstellungsmerkmal haben? So sieht es jedenfalls die designierte Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt, die sagt, dass nun der „Hass mit Haltung“ beantwortet wird: „Wir sind die einzigen, die noch stehen“ ist so ein Satz, den sie in letzter Zeit öfter verwendet hat, vor allem wenn es um die Willkommenskultur für Flüchtlinge ging. Auch Özdemir findet, dass nun die Grünen diejenigen sein müssten, die liberale Politik vorantreiben und in die Hand nehmen. Die Antwort auf Trump könne nicht Resignation sein, sagt er. „Wir werden weiter kämpfen für Gerechtigkeit in der Welt, weniger Kriege, mehr Klimaschutz.“

„Duktus der moralischen Überlegenheit ablegen“

Doch die Parteioberen haben auch Sorgen. Was, wenn die Grünen 2017 vom Zeitgeist zermalmt werden, wenn der rechtspopulistische Gegner sie erfolgreich diffamiert als Mainstream- und Bevormundungspartei? Unvergessen ist  der Wahlkampf 2013, als es Trump und die AfD in ihrer heutigen Form noch nicht gab. Und trotzdem verfing damals die Lesart von der nervigen Spaßtöter- und Moralapostel-Partei, als die Grünen Steuererhöhungen forderten und den Veggie Day in den Kantinen des Landes einführen wollten.

Bastian Hermisson, der Chef der grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung in den USA, sieht diese Gefahr. Hermission, ein leiser, beinahe unscheinbarer Mann, redet den Delegierten von der Parteitagsbühne herab ordentlich ins Gewissen: „Wir müssen raus aus der Blase und unseren eigenen Facebook-Echokammern. Wir müssen mit Andersgesinnten Kontakt suchen, sonst sind wir selbst Teil des Problems.“ Die Grünen, findet der US-Experte, müssten den „Duktus der moralischen Überlegenheit ablegen“, sonst werde es am Wahlabend böse für sie ausgehen. Eine Lehre aus Trumps Erfolg müsse eben auch sein, mehr Respekt für Menschen aus allen Milieus zu zeigen: „Schlechter Ausgebildete sind nicht dumm“, sagt Hermission – und erntet eher vorsichtigen Applaus.

Auch Fraktionschef Anton Hofreiter will diesen Satz über intellektuelle Arroganz nicht auf seine eigene Partei gemünzt sehen. Doch seine Analyse ist ebenfalls, dass “ Teile der deutschen Gesellschaft“ die Arbeiterschaft lange mit Verachtung betrachtet hätten, dass das ein Fehler und mit ein Grund für den Aufstieg von Populisten wie der AfD gewesen sei. Zwar ist auch die AfD eine ehemalige Professorenpartei, sie punktet aber auch bei denen, die die deutsche großstädtische Bildungselite mit ihren Studien und theoretischen Gewissheiten verachten.

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