Los Angeles (dpa) – „Jeder wollte Michael treffen oder mit Michael zusammen sein. Und dann mag er dich.“ James Safechuck sitzt in einem schwach beleuchteten Raum und erzählt vor laufender Kamera, wie er als kleiner Junge Michael Jackson kennenlernte – und wie dieser ihn dann missbraucht haben soll.

Zehn Jahre nach Jacksons tragischem Tod rückt die Dokumentation „Leaving Neverland“ den einst berühmtesten Popstar der Welt wieder in die Schlagzeilen.

Neue Beweise zu den alten Missbrauchsvorwürfen gegen Jackson liefert der Film von Regisseur Dan Reed nicht. Aber seit er Ende Januar beim Sundance Filmfestival in Utah Premiere feierte, ist der Streit über das Vermächtnis des Stars neu entbrannt. Am Sonntag und Montag zeigt HBO die Dokumentation nun gegen heftigen Widerstand von Jacksons Nachlassverwaltern. Der Bezahlsender gräbt damit im amerikanischen Abendfernsehen ein Thema wieder aus, das – nicht zuletzt aus Respekt vor Jackson und seiner Familie – eigentlich der Vergangenheit anzugehören schien.

Der Film bietet mehr Fragen als Antworten, denn verurteilt wurde Jackson trotz mehrerer Vorwürfe nie. 1993 hatte ein 13-jähriger Junge erklärt, im Jackson-Schlafzimmer Opfer sexueller Übergriffe geworden zu sein. Der Star bestritt das konsequent, einigte sich mit der Familie des Jungen dann auf eine Abfindung in Millionenhöhe. Ähnliche Beschuldigungen eines Teenagers führten 2005 zu einem „Jahrhundertprozess“, der mit einem für Jackson triumphalen Freispruch in allen Anklagepunkten endete.

Auch mit Blick auf die Aussagen des Tänzers und Choreographen Wade Robson bleiben bei „Leaving Neverland“ Fragen offen. Robson behauptet wie Safechuck, von Jackson im Kindesalter missbraucht worden zu sein – im Prozess im kalifornischen Santa Maria hatte er den Sänger allerdings noch verteidigt und unter Eid vom Pädophilie-Verdacht reingewaschen. Zur Begründung seiner geänderten Aussage erklärte er, der „King of Pop“ habe ihn damals einer Art Gehirnwäsche unterzogen.

„Er sagte mir, wenn unser Verhalten jemals bekannt wird, kommen wir beide für den Rest unseres Lebens ins Gefängnis“, erklärt Robson im Film. Besuche in Jacksons Neverland-Ranch seien „wie aus dem Märchen“ gewesen. „Die Tage waren gefüllt mit magischen Kindheitsabenteuern – Fangen spielen, Filme gucken, ungesundes Essen, alles“, erinnert sich Safechuck, der heute als Computerprogrammierer arbeitet.

Jacksons Nachlassverwalter hatten sich heftig gegen die Ausstrahlung gewehrt – vergeblich. In einer Klage über 100 Millionen Dollar (88 Mio Euro) Schadenersatz gegen HBO werfen sie Filmemacher Reed vor, „gegen jede Regel von verantwortungsvollem Journalismus und Dokumentarfilmen“ zu verstoßen, da er weder die Nachlassverwalter noch Jacksons Familie vor die Kamera holte. Reed entgegnet, er habe Augenzeugen sprechen lassen wollen. Die Familie könne nicht über das sprechen, was Robson und Safechuck geschehen sei.

„Erschreckend und unvergesslich“ nennt der „New Yorker“ die vier Stunden lange Dokumentation und fasst das Dilemma der Zuschauer zusammen, die zwei widersprüchliche und doch zwingende Grundsätze vereinen müssten: Opfern sollte man glauben – und für Beschuldigte gilt die Unschuldsvermutung.

Bei der Dokumentation zu Missbrauchsvorwürfen über den weit weniger bekannten R&B-Sänger R. Kelly hatten Anfang Januar 2,1 Millionen Menschen eingeschaltet. Am Sonntag und Montag könnten es deutlich mehr werden. Fans und Zuschauer werden sich ihr eigenes Urteil bilden. Hilfe bekommen sie von Talk-Übermutter Oprah Winfrey, deren Sondersendung „After Neverland“ mit Reed, Safechuck und Robson direkt im Anschluss an den zweiten Teil am Montag laufen soll.

Finanziell steht viel auf dem Spiel, auch zehn Jahre nachdem Jackson an einer Betäubungsmittel-Überdosis starb. Sein Nachlass kommt dem „Forbes“-Magazin zufolge seit seinem Tod inflationsbereinigt auf Gewinne von 2,1 Milliarden Dollar (1,8 Mrd Euro). Die „Cirque du Soleil“-Show zu Jackson in Las Vegas läuft seit sechs Jahren, 2020 soll ein Jackson-Musical am Broadway starten. Werden diese Shows überleben, wenn das Image des Stars sich postum wandelt?

Einen Hinweis, dass die Marke Jackson bereits gelitten haben könnte, zeigt die vergebliche Suche nach einem Käufer für das in „Sycamore Valley Ranch“ umbenannte Neverland-Gelände. Inzwischen ist es für 31 Millionen Dollar (27 Mio Euro) auf dem Markt – im Vergleich zum ursprünglichen Verkaufspreis von 2015 mit 70 Prozent Rabatt.

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