Symbolische Daten helfen uns, die Geschichte zu sortieren. Heute ist ein solches Datum: Die Terrororganisation „Islamischer Staat“ hat die letzten Quadratmeter im letzten Dorf, das von ihrem „Kalifat“ noch übrig war, verloren. Das haben die Syrian Democratic Forces (SDF) vor wenigen Stunden mitgeteilt.

Der 23. März 2019 wird damit das Gegenstück zum 29. Juni 2014 sein, dem Tag, an dem der IS seinen Möchtegern-Staat ausrief, der zwischenzeitlich die Größe Österreichs hatte und in dem mindestens sechs Millionen Menschen als Zwangsbürger lebten.

Aber symbolische Daten sind selten präzise, und so verhält es sich auch mit dem heutigen. Der IS hatte über zwei Jahre Zeit, sich auf den Verlust seines Restgebiets vorzubereiten; er hat sie genutzt und seine wichtigsten Kader längst in Sicherheit gebracht. Im Irak, in Syrien und anderswo leben Tausende IS-Kämpfer, sie werden als Terroristen und Guerillakämpfer in Erscheinung treten und weiter Menschen ermorden. Weder ist die Terrororganisation Geschichte, noch ist es die Gefahr, die von ihr ausgeht.

Toxisches Erbe

Am schwersten wiegt ohnehin das toxische Erbe, das der IS hinterlassen hat: Die vollständige Verheerung der Gesellschaften dort, wo die Dschihadisten geherrscht haben. Der IS war keine Armee von Außerirdischen, sondern bediente sich der Unterstützung und Mithilfe von Kollaborateuren und Anhängern vor Ort. Jeder in der Region weiß, welche seiner Nachbarn, welche Bewohner welches Nachbarorts sich an den Gräueln des IS beteiligt haben oder die Terroristen stillschweigend gewähren ließen. Die vormals multireligiösen, multiethnischen Beziehungsgeflechte Syriens und des Iraks sind heute zerrissen, niemand vertraut mehr irgendwem. Dieser Schaden ist immens, und er könnte irreparabel sein.

Heute ist deshalb ein guter Tag, der Opfer des IS zu gedenken. Auch jener Menschen, die immer noch Opfer des IS sind, wie etwa Hunderte entführte Jesidinnen, die sich nach wie vor in den Händen der Terroristen befinden. Ihre Befreiung steht noch aus.

Heute ist auch ein guter Tag, um sich noch einmal vor Augen zu führen, wem das Ende des „Kalifats“ zu verdanken ist: Es waren kurdische Peschmergakämpfer, irakische Soldaten, christlich-irakische Milizen, schiitisch-irakische Milizen, zuletzt in Syrien arabische, turkmenische und vor allem kurdische Kämpfer und Kämpferinnen, die am Boden gegen die Dschihadisten vorgegangen sind. Es waren verlustreiche Kämpfe. Ohne den Einsatz dieser lokalen Kräfte hätte die internationale Anti-IS-Allianz ihr Ziel nicht erreichen können, weil keine der beteiligten über 70 Nationen bereit war, eigene Fußsoldaten in ausreichender Menge bereitzustellen.

Jeder Krieg ist hässlich, auch dieser war es. Der IS hat einen Völkermord entfesselt und zahllose Morde und Kriegsverbrechen begangen. Aber auch seine Gegner haben sich zum Beispiel extralegaler Hinrichtungen schuldig gemacht. Die Koalition hat mit ihren Luftangriffen eine bis heute unklare Zahl von Zivilisten getötet. Der Preis für die Bekämpfung des „Kalifats“ war hoch, nicht nur finanziell, nicht nur an Menschenleben, da gibt es wenig zu beschönigen.

Heute sind die sozialen Netzwerke voll von Fotos, auf denen zu sehen ist, wie SDF-Kämpferinnen und Kämpfer die Befreiung des letzten IS-Dorfes Baghus feiern. Das ist überaus verständlich.

Aber schon morgen wäre ein guter Tag für den Rest der Welt, sich klarzumachen: Die Aufgabe ist noch nicht beendet. Wer den IS und seine Anhänger dauerhaft schwächen will, muss mithelfen, dass in der Region stabile, gerechte Verhältnisse entstehen.

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