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„Ich male es dir auf“, sagt Abu al-Tajeb. Auf seiner Serviette entsteht ein Kreis: Er bezeichnet ein Dorf im Süden Syriens, etwa 20 Kilometer Luftlinie von hier. Unter den Kreis malt Abu al-Tajeb drei konzentrische Halbkreise. „Vergrabene Sprengsätze“, sagt er und tippt auf den äußersten. „Minen“, und deutet auf den mittleren. „Und zwar Personenminen, die auf Panzerminen liegen, sodass gleich zwei Explosionen ausgelöst werden.“ Schließlich tippt er auf den innersten Halbkreis: „Maschinengewehr-Nester.“

Ein Verteidigungsring des „Islamischen Staats“ (IS), jedenfalls nach Angaben von Abu al-Tajebs Kundschaftern. Der stämmige Mann mit Halbglatze ist müde, hat in der vergangenen Nacht nur zwei Stunden geschlafen. Al-Tajeb, der eigentlich anders heißt, ist Verbindungsmann einer syrischen Rebellengruppe hier in Jordanien. Dutzende dieser Gruppen bilden gemeinsam die Southern Front, deren Operationsgebiet entlang der syrisch-jordanischen Grenze verläuft. US-Armee und westliche sowie arabische Nachrichtendienste unterstützen sie mit Waffen und Munition, Geld und Know-how. Unlängst haben Militärberater die Rebellen im Minenräumen geschult.

Die Minen, die der IS in Südsyrien einsetzt, beschafft er sich zum Teil aus feindlichen Depots. Die meisten Sprengsätze baut er allerdings selbst. Im Irak, rund um Mossul, wo eine internationale Koalition die Dschihadisten bekämpft, haben irakische Armee und kurdische Peschmerga gewaltige Sprengstoffdepots des IS entdeckt, vergraben unter Sandhügeln. Sie stießen außerdem auf regelrechte Fabriken für Sprengladungen. „Bei allem, was mit Sprengstoff zu tun hat, sind die Dschihadisten echte Künstler“, sagt Al-Tajeb. „Der IS professionalisiert sich waffentechnisch“, bestätigen Experten eines westlichen Nachrichtendienstes. „Das hat nichts mehr mit einer Partisanen- oder Rebellengruppe mit Kalaschnikows und Sprengstoffwesten zu tun. Da hat eine neue Zeitrechnung begonnen.“

Als die Dschihadisten im Sommer 2014 weite Teile des Iraks und Syriens eroberten und ein „Kalifat“ ausriefen, errichteten sie in diesem Protostaat neben Ministerien und Gerichtshöfen auch Waffenlabore. Der ZEIT liegt ein siebenseitiges internes IS-Papier aus einer dieser Werkstätten vor, das dokumentiert, an welchen Rüstungsprojekten die Ingenieure des IS arbeiteten. „Wir wollen den Brüdern hier in aller Kürze das Wichtigste beschreiben, was die Abteilung für Forschung und Entwicklung in der Provinz Aleppo unternommen hat“, heißt es am Anfang des Memos. Einige der darin erwähnten Ideen wirken recht kühn. Da ist etwa die Rede von einem „selbstkühlenden Anzug“, den zu entwickeln der IS sich vorgenommen hat, der also abstrahlende Körperwärme absorbieren soll – vermutlich als Schutz gegen gezielte Drohnenangriffe, die einen erheblichen Teil der IS-Führung getötet haben. Technisch ist so etwas prinzipiell möglich, aber noch niemand hat einen IS-Kämpfer in einem solchen Anzug gesehen.

Das Memo wurde in Manbidsch gefunden, einer Stadt im Norden Syriens, aus der die Terrortruppe im August 2016 nach gut zwei Jahren vertrieben werden konnte. Die digitale Signatur des Dokuments verrät, dass es im Dezember 2014 aufgesetzt und bis Mai 2015 rund 30-mal aktualisiert wurde. Es stammt mithin aus einer Zeit, in welcher der IS – im Gegensatz zu heute – noch über reichlich Geld verfügte und ungestört operieren konnte. Das erklärt den optimistischen Ton.

Doch niemand kann sicher sein, dass der IS seine Pläne mittlerweile aufgegeben hat – von denen einige, etwa der Umbau von Grad-Raketen zu Boden-Luft-Raketen, seinen Gegnern ernsthaft gefährlich werden könnten.

Einige der in dem Papier beschriebenen Erfindungen funktionieren außerdem bereits und werden vom IS eingesetzt. Besonders viel Energie verwandten die IS-Ingenieure dem Papier zufolge auf die Fernsteuerung von Waffensystemen. So brüsten sich die Terror-Tüftler etwa damit, die „Kontrolle und kameragestützte Überwachung eines kompletten Minenfeldes“ gemeistert zu haben, „inklusive der Möglichkeit, jeden einzelnen Sprengsatz aus der Entfernung zu zünden“. Eine solche Steuerung lasse sich für nur 175 Dollar herstellen. Weder in Medienberichten noch in Bulletins der am Kampf gegen den IS beteiligten Streitkräfte ist ein solcher Mechanismus bisher beschrieben worden. Aber die syrischen Rebellen kennen ihn: „Es stimmt“, bestätigt Abu al-Tajeb, „größere Sprengsätze zündet der IS manchmal ferngesteuert. Wir konnten das selbst beobachten.“

Auch einen in dem Memo noch als „Herausforderung“ definierten Tunnelbohrer konnten die Ingenieure des Heiligen Kriegs bereits herstellen. Das belegt ein wenige Wochen altes Foto von der Mossul-Front, auf dem das monströse Grabegerät zu sehen ist. Mit einiger Gewissheit wurde es auch bereits eingesetzt, denn der IS hat in der Tat ein weitverzweigtes Tunnelsystem geschaffen, das seinen Kämpfern erlaubt, unerwartet und manchmal im Rücken der Anti-IS-Koalition aufzutauchen. Mit solchen Taktiken verlangsamt der IS den Vormarsch der Koalition erheblich.

„Es ist schwer zu sagen, welche der in diesem IS-Dokument genannten Komponenten einsetzbar sind und welche bloß Bestrebungen wiedergeben“, sagt James Bevan, Direktor von Conflict Armament Research (CAR), einer Organisation, die regelmäßig Feldforscher in Krisengebiete entsendet und von der EU sowie der deutschen Regierung unterstützt wird. „Aber das Dokument erwähnt definitiv einige Technologien, deren Einsatz durch IS-Kräfte wir wiederholt dokumentieren konnten, unter anderem in Falludscha, Ramadi, Tikrit und zuletzt in Mossul.“

Zur Serienreife haben es zum Beispiel Systeme zur Ablenkung der Koalitionsjets gebracht. Sie hätten „Roboter zur Irreführung von Kampfflugzeugen“ hergestellt, die „das Mündungsfeuer schwerer Waffen simulieren“, schreiben die IS-Ingenieure in dem Memo. Diese Geräte seien solarbetrieben und könnten selbstständig den Ort wechseln. Ein anderes Gerät gaukle mithilfe von Infrarotstrahlung „dem Feind die Anwesenheit von Kämpfern mit Nachtsichtgeräten“ vor.

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