Exotisch sind die Jamaika-Sondierungsgespräche schon jetzt, nicht nur des Namens wegen. Allein die schiere Zeit, die sich die Parteien schon genommen haben und die offen ausgetragenen Streitigkeiten zwischen den Politikern – das sind Wähler und Gewählte aus der bundesdeutschen Geschichte bislang in dieser Form nicht gewohnt. 

In der Hauptstadt ist man nervös, denn den Verhandelnden läuft die Zeit davon, was vor allem an dem selbst gesetzten Ultimatum liegt, die Sondierungen in der Nacht unbedingt abschließen zu wollen. Die Stimmung wird zusehends gereizter, FDP-Vize Wolfgang Kubicki sieht einen „Hurrikan über Jamaika“ aufziehen, drastischstes Beispiel: Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann platzte der Kragen. Nach diversen Sticheleien aus Reihen der CSU, beispielsweise von Generalsekretär Andreas Scheuer („Wir sind nicht im Stuhlkreis der Grünen Jugend“), ließ der Grüne in Berlin vor laufenden Kameras ordentlich Dampf in Richtung der Christsozialen ab: „Das geht mal gar nicht. Entweder verhandelt man, dann verhandelt man, und lässt pauschale Angriffe auf andere Seiten mal beiseite und zwar radikal – der ich werd‘ den Verdacht nicht los, dass diese Herren das gar nicht wollen, dass hier konstruktiv und erfolgreich verhandelt wird, aber dann sollen sie’s sagen. Aber so geht’s mal nicht weiter.“ Ernüchterndes Fazit: „Nein, das klingt nicht optimistisch.“

Jamaika-Partner haben schwere Brocken vor sich

Ist das normales Säbelrasseln oder hegt Kretschmann tatsächlich die ernste Vermutung, dass die Regionalpartei nur Alibi-Verhandlungen führt und das Scheitern einkalkuliert? Mögliches Motiv: Sie will es sich nicht mit allzu viel Kompromissen – vor allem in Fragen der Flüchtlingspolitik – vor der bayrischen Landtagswahl mit den Wählern verscherzen.

Das wird der Landesvater aus dem Südwesten nur selbst wissen, klar ist nach den bisherigen Sondierungsgesprächen vor allem eines: Stöhnten Medien und Wähler noch vor der Wahl, dass Parteien und Programme zu austauschbar seien, ist jetzt deutlich, dass es erhebliche Differenzen zwischen den möglichen Koalitionspartnern gibt. Die Jamaika-Verhandler müssen bis Freitagmorgen noch gewaltige Meinungsverschiedenheiten aus dem Weg räumen, die größten davon:

  • Migration: CSU und CDU halten bisher strikt an ihrem Kompromiss fest, der eine Art Obergrenzenrichtlinie bei der Zuwanderung vorsieht. Die Grünen fordern eine Ausweitung des Familiennachzugs – CDU und vor allem CSU sind hier dagegen. Die FDP dringt ähnlich wie die Grünen auf eine Einwanderungsgesetz. Die Union ist für ein Fachkräfte-Zuwanderungsgesetz offen. Strittig sind Details.
  • Klima: CDU, CSU, FDP und Grüne bekennen sich zwar zu den deutschen und internationalen Klimazielen. Umstritten ist aber schon, wie viel CO2 Deutschland bis 2020 zusätzlich einsparen muss, um das eigene Ziel zu schaffen. Dass die Stromgewinnung aus Kohle zurückgefahren werden muss, ist inzwischen Konsens. Aber um wie viele Gigawatt? Und sollen die Kraftwerksbetreiber entschädigt werden dafür, dass sie abschalten, oder nicht? Da sind die Fronten noch verhärtet.
  • Finanzen: Soli-Abbau, Kindergeld, Freibeträge, Schulen, Integration, Netzausbau – die Wünsche aus CDU, CSU, FDP und Grünen summieren sich nach Berechnungen von Unionsexperten auf 100 Milliarden Euro. Wo soll das Geld bloß herkommen? Zuletzt gingen die Jamaika-Unterhändler von einem Finanzspielraum für die kommenden vier Jahre von 35 bis 40 Milliarden Euro aus. Je nach Berechnung – etwa durch Einbeziehung von Umschichtungen im mittelfristigen Finanzplan oder durch Privatisierungen – könnten bis zu 45 Milliarden Euro möglich werden. 
  • Verkehr: Hier hakt es vor allem beim Verbrennungsmotor – und wie. Von einem festen Enddatum haben sich die Grünen inzwischen verabschiedet, würden aber gern zum Beispiel über CO2-gebundene Steuern saubere Autos bevorzugen. Weitere Streitpunkte sind die Nachrüstung von Dieselautos und die Blaue Plakette für relativ saubere Autos, die gegen die hohe Stickoxid-Belastung in Innenstädten helfen soll. Vor allem die CSU, aber auch die FDP stemmt sich dagegen.

Abschließend ist diese Auflistung nicht, auch bei den Themen Europa, Landwirtschaft und Innere Sicherheit knirscht es noch ordentlich, aber immerhin: Neben den vielen Misstönen zeigten sich Vertreter aller Parteien auch optimistisch, dass die Sondierungen ein erfolgreiches Ende finden.

Es geht auch um Angela Merkel

Das dürfte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel hoffen, denn sollte Jamaika tatsächlich scheitern, wäre das auch eine persönliche Niederlage für sie – und könnte das Ende ihrer Kanzlerschaft bedeuten. „Es kann gelingen“, sagte sie vor der entscheiden Runde.

Merkel kennt nächtliche Verhandlungsmarathons aus Brüssel und Berlin aus dem Effeff, ihre Taktik könnte abermals lauten: Verhandeln, bis alle müde sind. Jamaika abnicken statt einnicken, das wäre auch exotisch – und möglicherweise der einzige Weg zum Erfolg.

Read more on Source