Wenige Tage vor dem Jahrestag der
russischen Invasion reist der 80 Jahre alte US-Präsident Joe Biden nach Kiew,
ohne dass die Öffentlichkeit etwas davon mitbekommt, zehn Stunden lang mit
seinem Team von Polen per Zug nach Osten. Er umarmt den ukrainischen
Präsidenten, während in Kiew die Sirenen heulen. Und spätestens jetzt wird
klar: Es sind die Amerikaner, die den Westen in dieser Krise anführen. Sie
haben die bislang effektivsten Waffen geliefert, die zutreffendsten
Geheimdienstinformationen, sie führen die entscheidenden politischen Gespräche.
Und nun tapst der ältliche US-Präsident in einer kritischen Phase des Krieges
im Sirenengeheul neben Selenskyj durch Kiew.
Es sind Monate, in denen wir die
Geschichte durchkämmen, um zu verstehen, wie es so weit kommen konnte, dass
Militärexperten die Stellungskämpfe um Bachmut mit den Schlachten an der
Westfront des Ersten Weltkriegs vergleichen. War das Minsker Abkommen mit
Putins Russland ein Fehler? Wie konnte Deutschland so lange an Nord Stream 2
und den russischen Gaslieferungen festhalten? Und warum hat die Welt zugesehen,
als die russische Armee in Syrien Bomben auf Zivilisten abwarf?
Der Überraschungsbesuch des
US-Präsidenten Joe Biden in Kiew blättert nun ein weiteres Kapitel der jüngeren
Geschichte auf. In diesem Kapitel, das die Jahre 2016 bis 2020 umfasst, regiert Donald Trump die Vereinigten Staaten. Er wütet gegen die Nato, nennt sie
„obsolet“, wirft den Europäern und speziell Deutschland vor, sich bloß hinter
amerikanischen Sicherheitsgarantien zu verstecken und selbst kaum etwas für die
eigene Verteidigung zu tun. Innenpolitisch biegt und beugt (noch ist nicht
klar, ob auch: bricht) er die bestehenden Gesetze und Konventionen, ernennt
radikale Verfassungsrichter und schmiegt sich an ethnonationalistische
Extremisten an.
Keine strategische Autonomie
In dieser Zeit wächst in Europa die
Einsicht, dass den USA nicht mehr vorbehaltlos zu trauen ist. Dass man es mit
einem politisch instabilen Land zu tun hat, unberechenbar, einer Weltmacht auf
dem Abstieg. „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten,
die sind ein Stück vorbei“ – so klang das damals bei der
Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die Europäer fassen einen Beschluss: unabhängiger zu werden von den USA, militärisch, wirtschaftlich und politisch.
Um künftig nicht mehr den Launen der Amerikaner
ausgeliefert zu sein, egal ob in Form von Schutzzöllen,
Einreisebeschränkungen oder reduzierten Verteidigungsausgaben. Strategische
Autonomie, so lautet fortan das Ziel der EU.
Was aber ist aus diesem Vorsatz geworden?
Wie steht es um die strategische Autonomie Europas, nach Trump, aber vor allem
nach diesem ersten Kriegsjahr?
Die Europäer haben ihr Ziel noch
nicht erreicht. Auch Olaf Scholz, Emmanuel Macron und Boris Johnson waren
während des vergangenen Jahrs in Kiew, auch sie liefern Waffen, auch sie
(Johnson ist mittlerweile abgelöst) drängen Putin in Telefonaten, den Krieg zu
beenden. Sie beanspruchen eine „Führungsrolle“, Deutschland verkündet die „Zeitenwende“, nimmt weit über eine Million
Flüchtlinge auf. Und doch schaut der
Kontinent bei der Koordination der Unterstützung für die Ukraine nicht zuerst
nach Brüssel. Sondern nach Washington.
Die USA haben den Trumpismus noch nicht überwunden
Es steckt darin
ein Versäumnis. Denn auch, wenn es Joe Bidens Regierung bislang gelingt, die
Waffenlieferungen zu koordinieren und riesige Hilfsbudgets durch den Kongress
zu bringen: Die USA haben sich unter ihm nicht konsolidiert, haben die Krise
nicht hinter sich, das Land hat den Trumpismus nicht überwunden. Es ist
möglich, dass im nächsten Jahr ein weiterer Trumpist zum Präsidenten gewählt
wird – vielleicht sogar Trump selbst. Und dass mit ihm (unwahrscheinlich: mit
ihr) auch die Aggression nach
außen und der Isolationismus wiederkehren. Die Europäer sollten
das Ziel der strategischen Autonomie deshalb nicht aufgeben. Es ist nicht obsolet,
denn die Gefahr eines bröckelnden Amerikas ist nicht gebannt.
Und doch weist Bidens Reise nach
Kiew den Weg im Systemkonflikt „Demokratie versus Autoritarismus“ die Zukunft:
Ein zunehmend paranoider russischer Präsident lässt seinen ehemaligen
Caterer Jewgeni Prigoschin Zehntausende zwangsverpflichtete Strafgefangene ins
ukrainische Mündungsfeuer schicken und ihnen Gräueltaten aller Art befehlen. Sein
Gegenspieler, 80
Jahre alt, steht nach zehnstündiger Zugfahrt im Präsidentenpalast an der Seite
seines Verbündeten Selenskyj und verspricht der Ukraine Unterstützung – „as
long as it takes“.
Dieser
Kontrast stellt allen autoritären und europaskeptischen Versuchungen der
vergangenen Jahre – dem Brexit, dem
Aufstieg der französischen Rechtsradikalen Marine Le Pen und auch der
romantischen Verklärtheit von Russland in Teilen der deutschen Öffentlichkeit –
die zwingende Alternative entgegen:
die liberale, kooperative Demokratie westlicher Prägung.
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