Jeden Abend versammeln sich ein paar Dutzend Menschen auf einer kleinen Anhöhe gegenüber des Gefängnisses Lledoners. Scheinwerfer tauchen die Anlage eine knappe Autostunde nördlich von Barcelona in taghelles Licht. Pünktlich um 20.45 Uhr hebt ein junger Mann ein Megafon in den Abendhimmel und wünscht jedem der sieben hier verhafteten Männer eine gute Nacht. Der Ruf „Bona nit, Jordi Cuixart“ kommt an dritter Stelle. „Ich will den Gefangenen so meine Anerkennung und Wertschätzung zeigen“, sagt Joan, der Mann mit dem Megafon. „Dass sie im Gefängnis sind, ist eine große Ungerechtigkeit. Wir alle fühlen uns dadurch eingeschlossen.“ 

Fast anderthalb Jahre ist es nun her, dass die katalanische Regionalregierung mit ihrer Unabhängigkeitserklärung von Spanien scheiterte. Der katalanische Ex-Präsident Carles Puigdemont lebt in Brüssel im Exil, das juristische Gezerre um seine Auslieferung nach Spanien ist beendet. Die Weltnachrichten haben sich längst anderen Themen zugewandt. Doch der Unabhängigkeitskonflikt in Katalonien ist nicht ausgestanden, er bestimmt weiter die Politik der Region und des gesamten Landes. Die sieben Millionen Menschen starke Region um Barcelona ist gespalten bei der Frage, ob sie weiterhin eine Unabhängigkeit will. Und die spanische Justiz ist mit Härte gegen die Anführer der Separatisten vorgegangen: Neun Politiker und Unabhängigkeitsaktivisten sitzen zum Teil schon über ein Jahr in Untersuchungshaft. 

Der Besuchersaal im Gefängnis Lledoners hat drei gläserne Sprechkabinen, darin jeweils drei Plastikstühle und eine leicht scheppernde Gegensprechanlage. Jordi Cuixart, in Jeans und schwarzem Pulli, legt zur Begrüßung die rechte Hand auf die Trennscheibe. Er strahlt übers ganze Gesicht, erzählt von seinem Töpferkurs, vom japanischen Autor Haruki Murakami, den er im Gefängnis entdeckt hat – und davon, wie er lernte, sich hinter Gittern heimisch zu fühlen. „Ich habe meine Frau Txell gebeten, mir Hausschuhe ins Gefängnis zu bringen. Ich muss die Zelle als mein Zuhause betrachten – das ist die einzige Möglichkeit geistig integer zu bleiben, um meine politischen Überzeugungen zu bewahren“, sagt er.

Die Rechtsextremen fordern 65 Jahre Haft für ihn

Seit 15 Monaten sitzt der Präsident des katalanischen Kulturvereins Òmnium in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Rebellion vor und fordert 17 Jahre Haft. Laut Anklageschrift hat Cuixart gemeinsam mit Jordi Sànchez, dem Ex-Präsidenten des pro-sezessionistischen Vereins Assemblea Nacional, immer wieder zu Demonstrationen und Protesten für die Unabhängigkeit Kataloniens von Spanien aufgerufen, dabei das Risiko gewalttätiger Aktionen in Kauf genommen und die Arbeit der Polizei bewusst behindert.

Besonderes Gewicht misst die Staatsanwaltschaft den Ereignissen am 20. und 21. September 2017 in Barcelona zu. Damals protestierten Zehntausende vor dem katalanischen Wirtschaftsministerium, das von der spanischen Guardia Civil durchsucht wurde. Die Zivilgardisten waren auf der Suche nach Dokumenten und Informationen in Zusammenhang mit dem Unabhängigkeitsreferendum, das die Regionalregierung für den 1. Oktober angekündigt hatte – unabhängig davon, dass das Verfassungsgericht eine solche Abstimmung verboten hatte.

In den Fernsehberichten zu den Demonstrationen vor dem Wirtschaftsministerium sind Bilder zu sehen, auf denen Cuixart und Sànchez auf einem völlig zerbeulten Einsatzwagen der Guardia Civil, der Nationalgendarmerie stehen – in der Hand das Mikrofon, vor sich die Menge. Bereut er, damals auf den Wagen gestiegen zu sein? Cuixart schüttelt energisch den Kopf. „Die spanische Gesellschaft sollte sich fragen, warum bei diesen Bildern nie die Untertitel laufen. Wir haben damals gegen Mitternacht die Demonstration offiziell beendet und die Leute aufgerufen, nach Hause zu gehen.“

Tatsächlich ist der Vorwurf der Rebellion der große Schwachpunkt der Anklage gegen Cuixart. Laut spanischem Strafgesetz ist dafür der Einsatz von Gewalt notwendig. Aber ist ein zerstörtes Auto, sind Rangeleien und ein „feindseliges Klima“ schon Gewalt? Im Fall der beiden Jordis kommt dazu, dass keiner der beiden politische Verantwortung für die Organisation des Unabhängigkeitsreferendums oder mögliche Abspaltungspläne hatte, sondern beide als Aktivisten, als Anführer von Bürgerbewegungen handelten. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat deswegen mehrfach ihre Freilassung gefordert.

„Ich habe lediglich das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit verteidigt – und das auf Selbstbestimmung“, sagt Cuixart. „Mein Ziel ist nicht, so schnell wie möglich aus dem Gefängnis zu kommen, sondern die politischen Grundrechte in diesem Land zu verteidigen.“ Cuixart ist überzeugt davon, dass der Staat im Umgang mit den katalanischen Separatisten autoritäre Tendenzen zeige, die noch aus der Franco-Diktatur rühren. Auch das Erstarken von rechtsextremen Parteien wie Vox erklärt er damit. „Die rechten Populismen sind doch nichts anderes als Faschismus in einem neuen Gewand.“ Viele politische Kommentatoren dagegen glauben, dass die Rechtsnationalisten in erster Linie durch das sture Agieren der Unabhängigkeitsparteien Auftrieb erhalten haben.

Cuixart, Jahrgang 1975, ist Sohn eines Mechanikers und einer Fleischerin – aus dem südspanischen Murcia, wie er mehrfach betont. „Ich fühle mich einem Republikaner aus der Provinz Kastilien enger verbunden als einem katalanischen Monarchisten.“ Im Gefängnis hat er in den vergangenen Monaten viel über zivilen Widerstand gelesen. Seine Anwältin will unter anderem den Philosophen Noam Chomsky und Friedensnobelpreisträgerin Jody Williams in den Zeugenstand rufen, um sein Vorgehen zu verteidigen. Darüber muss noch das Gericht entscheiden.

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