Am Tag zuvor sind wieder einmal drei Menschen getötet worden, hier im Süden Kaschmirs, und die Polizei hat wieder einmal eine Ausgangssperre verhängt. Es ist also ein ziemlich normaler Morgen, an dem sich die drei jungen Männer in der Stadt Anantnag treffen: Nasir, 22, ein Student mit Kinnbart; Faiz, 21, der kaum etwas sagt; und Farooq, 20, rötliches Haar, hager, mit hochgekrempelten Jeans.
Einer von ihnen ist kurz darauf in allen Zeitungen zu sehen – das Bild zeigt, wie ihn Polizisten abführen. Ein anderer wird bald nicht mehr am Leben sein.
Die Männer wollen ihre echten Namen nicht nennen. Sie fürchten die Polizei, aus gutem Grund: Sie wollen sich dem Kampf für „Azadi“ anschließen: für die Unabhängigkeit der Region Kaschmir von Indien. Und der Staat, von dem sie träumen, soll islamisch sein.
„Wir führen dann die Scharia ein“, sagt Farooq. Frauen sollten sich verschleiern, Dieben solle die Hand abgehackt werden. Wenn es sein müsse, werde er als Märtyrer für diesen Traum sterben, sagt Farooq. Viele in Kaschmir reden gerade so.
Drei Kriege
Seit der Unabhängigkeit Indiens und Pakistans vor 70 Jahren schwelt der Konflikt. Damals wurde das ehemalige Fürstentum im Himalaya zwischen den Ländern aufgeteilt – doch beide erheben bis heute Anspruch auf ganz Kaschmir. Drei Kriege fanden deswegen statt. Auch China hat sich einen kleinen Teil einverleibt. Und dann sind da noch jene Gruppen, die Kaschmirs Eigenständigkeit fordern.
In diesem Jahr sind bisher fast 350 Menschen bei Auseinandersetzungen getötet wurden, Zivilisten, Sicherheitskräfte, bewaffnete Separatisten. Die Lage hatte sich seit den Aufständen 2010 beruhigt – doch nun verschärft sich der Konflikt wieder. Und plötzlich spielt auch Religion eine wichtige Rolle.
Der Islam war immer wichtig hier, im indischen Teil des Bundesstaats Jammu und Kaschmir, dem einzigen mehrheitlich muslimischen Bundesstaat des Landes. Doch der Kampf um Kaschmir war stets politisch.
In den vergangenen 15 Jahren aber sind rund 300 wahhabitische Moscheen entstanden, die eine radikale Auslegung des Islams predigen. Islamistische Organisationen finanzieren Schulen und Krankenhäuser. Terrorgruppen wie al-Qaida und der „Islamische Staat“ suchen hier nach Mitgliedern. Ein bekannter Kämpfer drohte Ungläubigen mit Enthauptungen und Pakistan mit Dschihad – ausgerechnet jenem Land, das den Aufstand gegen Indien stets mit Waffen und Geld unterstützt hat.
Es sind die jungen Männer, die empfänglich sind für die Botschaften der Islamisten.
Dazu trägt auch bei, dass die hindunationalistische Regierung unter Präsident Narendra Modi gegen die muslimische Minderheit Stimmung macht.
Farooq wurde 1997 geboren. Damals schickte Pakistan bewaffnete Kämpfer in den indischen Teil Kaschmirs, die Armee unterdrückte jeden Widerstand. Seit 1990 starben mindestens 40.000 Menschen. Farooqs Eltern haben ihm erzählt, wie brutal die Armee gegen die Aufständischen vorging, wie Menschen einfach verschwanden. Wie viele dann hofften, es gehe voran, weil sich die Regierung in Neu-Delhi gesprächsbereit zeigte – nur um dann enttäuscht zu werden.
So ist Farooq aufgewachsen: mit der Gewissheit, dass alles nur noch schlimmer wird.
Schon als Kind spielte er Soldat und Rebell. Mit 13 warf er seinen ersten Stein. Mit 19 traf ihn eine Kugel aus dem Luftgewehr eines Soldaten am Mund. Farooq zieht die Oberlippe hoch und zeigt die Narbe. Heute, mit 20, träumt er davon, es den „dreckigen Schweinen heimzuzahlen“. Manche wurden bei Protesten gar getötet.
Ausnahmezustand als Normalität
In Kaschmir zeigt sich gerade, was mit einer Generation passiert, die nur den Konflikt kennt. Für die der Ausnahmezustand zur Normalität wird. Und eine Narbe zur Trophäe.
Zwei Drittel des Schulunterrichts fielen seit dem Sommer wegen der Ausgangssperren aus. Ein Viertel der jungen Menschen ist arbeitslos. Die Zahl der psychischen Störungen ist höher als an jedem anderen Ort in Indien. Die Gewalt hat viele abgestumpft. Wie selbstverständlich zeigen Farooq, Faiz und Nasir Fotos von getöteten Freunden.
Menschenrechtsorganisationen kritisieren Indien schon lange für sein rabiates Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung, auch Folter wird den Soldaten vorgeworfen. Indien hingegen wähnt sich im Kampf gegen den Terror: Immer wieder werden Leichen verstümmelter Soldaten gefunden.
Mit Gewehr im Wald
Kürzlich verschwand ein Freund von Nasir und Farooq, ein erfolgreicher Cricketspieler. Kurz darauf tauchte ein Foto von ihm im Internet auf, es zeigte ihn mit einem Gewehr im Wald. Er gehört nun einer Gruppe an, die Anschläge auf indische Stützpunkte und Patrouillen verübt. Zuletzt griff sie den Flughafen der Hauptstadt Srinagar an.
Draußen ruft der Muezzin zum Gebet. Aber Farooq ist damit beschäftigt, ein Selfie zu machen. Vom Islam versteht er nicht viel, er verehrt die Extremisten wie andere Fußballer. Er kann aufzählen, wann er wen wo gesehen hat und welche Beerdigung von einem getöteten Separatisten er besucht hat.
Farooq und seine Freunde sind wohl weniger überzeugte Islamisten als frustrierte, traumatisierte junge Männer. Doch sie scheinen es ernst zu meinen mit dem Kampf.
Besonders einen verehren sie hier: Zakir Musa, der erste Unabhängigkeitskämpfer aus Kaschmir, der sich im Juli al-Qaida angeschlossen hat. Der indische Staat sucht ihn als Terroristen.
Fotostrecke: Radikale Islamisten in Kaschmir – Indiens verlorene Jugend
Ein Video zeigt Musa, dichter schwarzer Bart, graues T-Shirt, Tarnweste. Er redet von Allah und dem Gebot, als Märtyrer zu sterben. Musa ist in Kaschmir ein Star, sein Name ist vielerorts an die Wände gesprüht. Im Internet findet man Bilder, auf denen der Terrorist posiert: Musa beim Cricketspielen. Musa mit Waffe. Musa beim Singen.
„Musa hat uns auf den rechten Pfad geführt“, sagt Farooq.
„Musa ist unser Held“, sagt Nasir.
Noch besteht Musas Truppe aus lediglich einem Dutzend Kämpfern. Niemand weiß, wie gefährlich er wirklich ist.
Wer mit Politikern und mit Sicherheitskräften spricht, der hört oft: Radikales Gedankengut könne sich in Kaschmir nicht durchsetzen. Sie sind wütend, weil das Gerede vom Dschihad den Unabhängigkeitskampf in ein schlechtes Licht rückt. Sie hoffen daher, dass Musa ein vorübergehendes Phänomen ist.
Brutale Anschläge
Es gibt derzeit rund 200 islamistische Kämpfer in Kaschmir, die Hälfte aus Pakistan, die sich auf teils rivalisierende Gruppen verteilen. Musas Truppe ist eine von vielen. Sie verüben brutale Anschläge; wie im Juli auf einen Bus mit hinduistischen Pilgern, 16 Menschen starben.
Indien hat mehrere Hunderttausend Soldaten in Kaschmir, ein paar Hundert Kämpfer stellen da militärisch keine Gefahr dar. Dieses Jahr töteten die Sicherheitskräfte 190 von ihnen. Es ist eher der Kampf um die Köpfe, um die Jungen, den Indien gerade verliert – um Menschen wie Farooq, Faiz und Nasir.
Im November schließt sich Farooq einer der islamistischen Gruppen an. Seine Mutter ist schluchzend in einem Video sehen. Die Polizei erklärt, sie werde Gnade walten lassen. Und tatsächlich stellt sich Farooq eine Woche später. Die Zeitungen zeigen sein Foto auf der Titelseite: Farooq schaut darauf zu Boden, vor ihm sitzen drei Polizeibeamte.
Amnestie kommt zu spät
Der Mann, der den Staat stürzen wollte, ist zum Symbol für dessen Großzügigkeit geworden. Wenige Tage später erklärt die kaschmirische Regierung, sie wolle Amnestie für Steinewerfer erlassen. Es würde das Ende von Verfahren gegen 4327 junge Männer bedeuten. Es wäre ein starkes Signal im Kampf gegen die Radikalisierung. Aber für viele ist es da schon zu spät. Auch für Nasir.
Irgendwann, an jenem Tag in Anantnag, kommt die Frage auf: Hat einer von ihnen schon mal eine Waffe abgefeuert?
Nein, sagen die drei jungen Männer, aber sie hätten sich das auf YouTube angesehen. Sie seien bereit.
Eine Woche später taucht Nasir unter. Ein Foto zeigt ihn, mit gerecktem Zeigefinger und Stirnband. Er ist den Extremisten beigetreten. Elf Tage danach ist er tot. Erschossen von Polizisten.
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