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Noch wenige Stunden vor der Entscheidung galt die Sache als völlig offen. Unter den Christdemokraten im Straßburger Europaparlament kursierte eine Wette, wer ihr Kandidat für den Posten des EU-Parlamentspräsidenten wird: Mit fünf Euro war man dabei. Antonio Tajani galt neben Mairead McGuinness als Favorit. Doch dass der Italiener seine parteiinterne Konkurrenz schon im ersten Wahlgang deklassieren würde, ahnten nur wenige.
94 der 217 Abgeordneten der Europäischen Volkspartei (EVP) hatten auf den kleinen grünen Zetteln ihr Kreuzchen neben Tajani gemacht. Die Irin McGuinness (57 Stimmen), der Franzose Alain Lamassoure (34) und der Slowene Alojz Peterle (17) warfen das Handtuch.
Damit stand am Dienstagabend kurz nach 20 Uhr fest: Tajani wird, ohne überhaupt die absolute Mehrheit seiner Leute benötigt zu haben, am 17. Januar für die EVP als EU-Parlamentspräsident kandidieren – und wahrscheinlich Nachfolger des Sozialdemokraten Martin Schulz.
Für Grüne und Linke unwählbar
Was für eine Ironie: Die Konservativen stellen als Kandidaten einen Kumpel von Silvio Berlusconi auf. Ausgerechnet im Jahr von Trump und Brexit bringt die EVP einen Mann in Stellung, der mit dem Urvater des Populismus in Europa politisch groß geworden ist.
Tajanis Kandidatur ist nicht nur eine Blamage für diejenigen, die nur das Ziel hatten, Schulz loszuwerden. Ein Problem hat jetzt auch das Europaparlament insgesamt. Denn Tajani gilt unter Grünen und Linken als unwählbar, auch große Teile der Liberalen lehnen ihn ab. Die Sozialdemokraten wiederum haben kürzlich die informelle Große Koalition mit der EVP aufgekündigt und ihren Fraktionschef Gianni Pittella ins Rennen geschickt – anstatt, wie eigentlich mit der EVP vereinbart, nach Schulz‘ Rückzug einen Christdemokraten zu inthronisieren.
Nun erscheint denkbar, dass keiner der beiden in den ersten drei Wahlgängen eine absolute Mehrheit bekommt. Im vierten Wahlgang reicht die einfache Mehrheit – und ausgerechnet die Rechtspopulisten, darunter Marine Le Pen und ihr Front National, könnten Tajani dann zum Sieg verhelfen. „Unter Schulz“, stöhnt selbst ein deutscher Konservativer, „würde es solch ein Chaos nicht geben.“
Webers Albtraum droht wahr zu werden
Ein konservativer Parlamentspräsident von Le Pens Gnaden – genau das wollte EVP-Fraktionschef Manfred Weber unbedingt verhindern. Noch am Montag hatte der CSU-Politiker versucht, seinen Parteifreunden ins Gewissen zu reden. Auf keinen Fall dürfe man den Feinden Europas die Chance geben, mit ihren Stimmen die Präsidentenwahl zu entscheiden, schrieb Weber in einem Brief an seine Fraktion. Vielmehr müsse man den Konsens suchen. „Unser Kandidat wird ein Brückenbauer sein“, prophezeite der CSU-Politiker.
„Die EVP baut Brücken mit der Abrissbirne Tajani“, spottete nach der Wahl ein EVP-Mann. Es sei „irre“, dass man nicht die Irin McGuinness gewählt habe, die viele Stimmen von Grünen, Liberalen und sogar Linken geholt hätte. Die könnten nun an den Sozialdemokraten Pittella gehen, befürchtet ein anderer Konservativer: „Mit Tajani können wir einpacken.“
Tajani, das muss man ihm lassen, führte seine Kampagne wie ein Profi. Offiziell gab er erst vor wenigen Tagen bekannt, dass er Nachfolger von Martin Schulz werden will. Dabei wusste in der EVP-Fraktion und darüber hinaus längst jeder, dass Tajani Interesse an dem Top-Job hatte. Am vergangenen Dienstag war Tajani als Gast beim CDU-Parteitag in Essen, am Rande der Gespräche zog er sich mit EVP-Fraktionschef Weber zurück. Er fragte ihn, ob es dabei bliebe, dass er selbst nicht antreten wolle. Als Weber dies bestätigte, beschloss Tajani, seine Kandidatur öffentlich zu machen.
Absage an die Große Koalition
Am Freitag streifte er durch die Reihen der EVP-Büros im Brüsseler Parlamentsbau und suchte einflussreiche Parlamentarier auf. Mit dabei hatte Tajani den Ausdruck einer kleinen Meldung italienischer Agenturen, in der Sozialist Pittella nur Gutes über ihn sagte. Die Botschaft Tajanis an seine Parteifreunde war klar: Wenn ihr mich nominiert, habe ich die Zustimmung der Sozialisten für die Wahl im Januar in der Tasche. „Jetzt ist die Mafia auf der Suche nach einem Nachfolger für Schulz“, lästerte ein EVP-Mann am vergangenen Wochenende.
Ob Pittella seinem Landsmann Tajani gegenüber wirklich so milde gestimmt ist, darf jedoch bezweifelt werden. Wer den Italiener dieser Tage auf die EVP anspricht, bekommt wenig Gutes zu hören. Es sei für ihn derzeit „völlig unmöglich“, die informelle Große Koalition fortzusetzen, sagte Pittella wenige Stunden vor Tajanis Wahl in Straßburg. Man werde in Zukunft von Thema zu Thema entscheiden, mit wem man kooperiere. In einer „strukturierten Zusammenarbeit“ mit der EVP sehe er keinen Sinn.
Doch Pittella konnte ohnehin kaum noch anders, als bei der Präsidentschaftswahl anzutreten – der Druck in seiner Fraktion ist extrem hoch. Viele Sozialisten wollen sich nicht damit abfinden, dass nach dem Abgang von Schulz alle Top-Jobs in der EU – Ratspräsident, Kommissionschef und Parlamentspräsident – in die Hände der Konservativen fallen. Dass die nun ausgerechnet Tajani auf den Schild gehoben haben, gilt auch als Retourkutsche an die Sozialisten.
Die Folgen des Zwists könnten bis nach Berlin wirken – und dort für Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Problem werden. Denn Tajani ist letztlich ein Kandidat Südeuropas. In der EVP hat er die Unterstützung von Italienern, Portugiesen, Spaniern, Rumänen und am Ende, nach einer Empfehlung des im ersten Wahlgang abgestraften Lamassoure, auch der Franzosen. Sie alle drängen auf ein Ende der deutschen Sparpolitik. Es wird ungemütlicher für Berlin an der Spitze des Europaparlaments.
Zusammengefasst: Die Konservativen im Europaparlament wollen den Italiener Antonio Tajani zum Parlamentspräsidenten machen. Nun droht eine Spaltung des Abgeordnetenhauses, von der Populisten und Radikale profitieren könnten. Sollten Christ- und Sozialdemokraten nicht doch noch einen Kompromiss finden, könnten Politiker wie die des französischen Front National am Ende die Wahl entscheiden.
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