Kiew/Washington – Aus westlicher Sicht herrscht in der Ukraine-Krise längst Alarmstufe Rot. Seit Wochen warnt die Nato vor einem Angriff aus Russland. Nach Überzeugung der US-Regierung hätte Moskau dafür genug Soldaten an der Grenze zum Nachbarland zusammen.
Beinahe täglich kommen aus den USA und Europa Appelle zur Deeskalation. Ausgerechnet an einem jedoch scheint die Kriegsangst weitgehend vorbei zu gehen: am Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj.
Ausländischen Journalisten warf Selenskyj bei einer Pressekonferenz am vergangenen Freitag Panikmache vor. Es gebe keine größere Eskalation als noch vor einem Jahr. «Fahren bei uns etwa Panzer auf den Straßen herum? Nein! Doch das ist das Gefühl, wenn du nicht hier bist.» Es sind bemerkenswerte Aussagen – hatte der Chef der ukrainischen Militäraufklärung, Kyrylo Budanow, noch vor wenigen Monaten für Ende Januar den Einmarsch prognostiziert.
Auch die USA bekamen Selenskyjs verbale Attacke ab: «Sobald das Weiße Haus begreift, dass es gewisse Risiken gibt, reden sie ständig davon. Meiner Meinung nach ist das ein Fehler, weil die Welt sehr stark darauf reagiert.» Er sei dankbar für die konstante Unterstützung, so der 44-Jährige. «Aber ich kann nicht wie andere Politiker sein, die den Vereinigten Staaten einfach nur dankbar sind, weil sie die Vereinigten Staaten sind.»
Washington ist irritiert
In Washington wurde dies irritiert zur Kenntnis genommen. Viele US-Medien berichteten ausführlich. Die US-Seite legte mit Schreckensszenarien nach – konkreter denn je: Verteidigungsminister Lloyd Austin und Generalstabschef Mark Milley deklinierten gemeinsam verschiedene militärische Optionen durch, die Russland habe.
Sollten die gesammelten russischen Kräfte angreifen, würde das «zu einer beträchtlichen Anzahl von Opfern führen», hieß es aus Washington. Später verteidigte die US-Regierung ihre Warnungen dann noch einmal explizit. «Wir halten es für wichtig, offen und ehrlich über die Bedrohung durch Russland zu sprechen», sagte die Sprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki, am Montag.
Zugleich wissen die Amerikaner um ein Dilemma Selenskyjs: Dieser hat verschiedene Zuhörerschaften zu bedienen. Einerseits braucht er die finanzielle und militärische Unterstützung internationaler Partner, allen voran der USA, und muss das russische Vorgehen daher als bedrohlich darstellen. Gleichzeitig will er den Ukrainern den Eindruck zu vermitteln, er habe die Lage im Griff.
Panik auf den Märkten vermeiden
Eine große Angst offenbarte Selenskyj selbst: «Wir müssen heute die Wirtschaft unseres Landes stabilisieren. Durch all diese Signale, dass morgen Krieg ist, gibt es Panik auf den Märkten und im Finanzsektor.» Die Angst vor einer militärischen Eskalation macht der ökonomisch ohnehin schwachen Ukraine zu schaffen. Umgerechnet mehr als elf Milliarden Euro haben ausländische Investoren Selenskyj zufolge bereits abgezogen. Die Landeswährung Hrywnja fiel gegenüber dem US-Dollar auf den tiefsten Stand seit Februar 2015.
Schon jetzt ist die Inflation zweistellig. Eine weitere Abwertung der Hrywnja würde die bereits hohen Importpreise für Erdgas, Kohle und Atombrennstoff noch mehr nach oben treiben. Das wiederum zwänge die Regierung, die Inlandspreise für Gas, Strom, Warmwasser und Heizung stark anzuheben. Die Unzufriedenheit mit der Wirtschaftslage könnte Selenskyjs Beliebtheitswerte noch weiter nach unten drücken.
Und noch etwas könnte eine Rolle spielen. Mit der Verbreitung von Kriegsangst setzten die USA die Ukraine unter Druck, weitere Verpflichtungen aus dem 2015 ausgehandelten Friedensplan von Minsk umzusetzen, sagte der ukrainische Politologe Mychajlo Pohrebynskyj der russischen Tageszeitung «Kommersant». Nur ein Entgegenkommen Kiews könne die Lage noch deeskalieren. In der eigenen Bevölkerung würde sich Selenskyj damit allerdings viele Feinde machen.
Hälfte der Bevölkerung fürchtet Krieg
Viele ukrainische Militärexperten rechnen nicht mit einem großangelegten Einmarsch des großen Nachbarn. Umfragen zufolge hält knapp die Hälfte der Bevölkerung die Gefahr aber für real. Für die 2014 erstmals aufgestellten Gebietsverteidigungsbataillone meldeten sich Hunderte neue Freiwillige. Im Ernstfall wollen sie der regulären Armee den Rücken frei halten: Nun laufen Frauen und Männer mit Gewehrattrappen aus Holz durch Waldstücke und verfallene Fabrikanlagen. Auf Videos ist auch zu sehen, wie sie mit «Peng, Peng»-Rufen Gefechte nachstellen.
Auf der patriotischen Welle surfen auch einige Politiker mit. Der als Präsidentenkandidat für 2024 gehandelte Kiewer Bürgermeister und Ex-Boxweltmeister Vitali Klitschko versicherte kürzlich in einer Talkshow: «Wenn eine militärische Aggression beginnt, dann werde ich ein Sturmgewehr nehmen und für die Ukraine kämpfen gehen.»
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