Kiew – Mehr als zwei Wochen nach dem Einmarsch in die Ukraine verstärken russische Truppen ihre Angriffe auf umkämpfte Städte, deren Einwohner bereits Leid geprüft und zermürbt sind.

Aus Orten in verschiedenen Teilen des Landes wurden am Samstag erneut Kämpfe und Beschuss gemeldet. Das russische Verteidigungsministerium sprach am 17. Tag des Krieges von Angriffen auf „breiter Front“. Zur Rettung von Zivilisten aus mehreren ukrainischen Städten waren mehr als ein Dutzend Fluchtkorridore geplant.

„Jetzt gibt es keine Regeln mehr“

„Die Besatzer haben nachts mit wahllosem, chaotischem Feuer Krankenhäuser und Internate beschossen“, schrieb der Gouverneur des südukrainischen Gebiets Mykolajiw, Witalij Kim. Zwei Menschen seien verletzt worden. Die Angreifer hätten ihre Taktik geändert und versteckten sich in Dörfern zwischen Zivilgebäuden. „Jetzt gibt es keine Regeln mehr, wir werden hart gegen sie vorgehen“, sagte Kim.

Mykolajiw liegt an der Mündung des Südlichen Bugs ins Schwarze Meer. Sollten russische Truppen die Stadt einnehmen oder umgehen, stünde ihnen der Landweg nach Odessa offen und diese bedeutende südwestliche Hafenstadt könnte vom Rest des Landes abgeschnitten werden.

Erneut Korridore für mehrere Orte geplant

Besonders schwierig ist die Lage mehrerer Hunderttausend Einwohner, die in der Hafenstadt Mariupol eingeschlossen sind. Erneut sei ein Konvoi mit Hilfsgütern und Bussen zur Evakuierung in die Stadt aufgebrochen, sagte die ukrainische Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk. Es ist der fünfte Versuch, die belagerte Stadt am Asowschen Meer zu erreichen. Bisher kamen Fluchtkorridore nie zustande. Beide Seiten gaben sich gegenseitig die Schuld dafür.

Geplant seien auch Korridore für mehrere Orte nordwestlich von Kiew, unter anderem Hostomel, Makariw und Borodjanka, sagte Wereschtschuk. Dort hat sich die russische Armee seit Tagen festgesetzt und versucht weiter, die Hauptstadt auch von Westen her zu blockieren. Außerdem gab es erneut Evakuierungsversuche im Nordosten des Landes.

Ukraine: Experten aus Russland am Kernkraftwerk Saporischschja

In dem von russischen Truppen besetzten ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja trafen nach Angaben aus Kiew Experten aus Russland ein. Elf Beschäftigte des russischen Staatskonzerns Rosatom hätten das AKW im Südosten der Ukraine erreicht, darunter seien zwei Ingenieure, teilte das staatliche Unternehmen Enerhoatom mit. Vertreter einer selbst ernannten militärisch-zivilen Verwaltung hätten erklärt, dass die Gruppe die Sicherheit der Anlage bewerten solle und auch für Reparaturarbeiten zuständig sei.

Rosatom bestätigte am Nachmittag, „dass eine Gruppe mehrerer russischer Experten“ dem ukrainischen Fachpersonal „beratend zur Seite“ stehe. Verwaltung und Betrieb lägen in der Hand der Ukraine. Das gelte auch für das ehemalige Atomkraftwerk Tschernobyl. Russische und ukrainische Spezialisten tauschten sich regelmäßig aus.

In Europas größtem Atomkraftwerk hatte vor mehr als einer Woche nach ukrainischen Angaben ein Ausbildungsgebäude unweit eines Reaktors gebrannt, nachdem es unter Beschuss geraten sein soll. Nach Angaben der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) funktioniert inzwischen die automatische Übertragung von Daten an die IAEA in Wien nach einer Unterbrechung wieder.

Selenskyj: 1300 ukrainische Soldaten getötet

Seit Ausbruch des Kriegs in der Ukraine sind laut ukrainischem Präsident Wolodymyr Selenskyj etwa 1300 ukrainische Soldaten getötet worden. Die ukrainische Armee hatte sich bislang bei Angaben zu Verlusten in den eigenen Reihen bedeckt gehalten und lediglich die Zahl angeblich getöteter russischer Soldaten genannt. „Bei uns sind etwa 1300 Soldaten getötet worden und bei Russland mehr als 12.000“, sagte der Präsident vor internationalen Journalisten. Die Zahlen lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

Zuletzt hatte Selenskyj am zweiten Kriegstag, am 25. Februar, von 137 gefallenen ukrainischen Soldaten gesprochen. Russland hatte bei seiner bisher einzigen Angabe am 2. März eine Zahl von knapp 500 getöteten eigenen Streitkräften genannt.

Ukraine: Separatisten erobern Stadtteile von Mariupol

Unterdessen setzten die prorussischen Separatisten mit Unterstützung russischer Truppen ihren Vormarsch in der Hafenstadt Mariupol nach Angaben aus Kiew fort. Der Feind habe östlich gelegene Randbezirke erobert, teilte das ukrainische Militär am Samstag mit. Zuvor hatte das russische Verteidigungsministerium bereits die Einnahme mehrerer Stadtteile gemeldet. Mariupol am Asowschen Meer mit 400.000 Einwohnern wird seit Tagen belagert. Die humanitäre Lage spitzt sich dramatisch zu.

Das russische Verteidigungsministerium teilte mit, in der Nähe der Hauptstadt Kiew seien eine Luftwaffenbasis in Wassylkiw und das nachrichtendienstliche Aufklärungszentrum der ukrainischen Streitkräfte in Browary außer Gefecht gesetzt worden. Im Osten der Ukraine nahmen nach russischen Angaben Russlands Militär und Truppen der Separatisten aus Luhansk und Donezk zahlreiche Ortschaften ein.

Strategische Bomber der russischen Luftwaffe sollen Marschflugkörper in den Städten Luzk, Iwano-Frankiwsk und Dnipro eingesetzt haben. Luzk und Iwano-Frankiwsk befinden sich nördlich und südlich der Stadt Lwiw unweit der polnischen Grenze. Bereits in der Nacht zum Freitag weitete Russland seine Angriffe auf den Westen der Ukraine aus.

Nach ukrainischen Militärangaben versuchen russische Truppen zudem, die nordostukrainische Stadt Tschernihiw aus südwestlicher Richtung zu blockieren. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte, die Großstadt mit knapp 280.000 Einwohnern sei ohne Wasserversorgung. Die Informationen ließen sich nicht unabhängig überprüfen.

Russische Kolonne nahe Kiew hat sich zerstreut

Eine große russische Militärkolonne hat sich nach britischen Geheimdienstinformationen nördlich von Kiew teils zerstreut. Dies dürfte wahrscheinlich einen russischen Versuch unterstützen, die ukrainische Hauptstadt einzukreisen, teilte das britische Verteidigungsministerium am Samstag auf Twitter mit. Es könne sich auch um einen russischen Versuch handeln, die eigene Anfälligkeit für ukrainische Gegenangriffe zu verringern. Diese hätten bei den Russen bereits einen erheblichen Tribut gefordert.

Während die Gefechte nordwestlich von Kiew weitergingen, befinde sich der Großteil der russischen Bodentruppen nun rund 25 Kilometer vom Zentrum der Dreimillionenstadt entfernt, teilte das Ministerium weiter mit.

© dpa-infocom, dpa:220312-99-488044/9

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