Monatelang trotzte die Festung Bachmut den russischen Angriffen. Nun ist sie beinahe eingeschlossen. Russland hat große Verluste erlitten, doch Kiew darf sich jetzt keinen Fehler erlauben.

Der Fall von Bachmut steht bevor, seine Einordnung ist komplex. Denn weder ist es ein rauschender Sieg für Russland noch ein Glanzstück für die Ukraine. Zunächst das Positive: Bachmut liegt wie ein Wellenbrecher vor der letzten von Kiew gehaltenen Städtekette im Donbass. Die befestigte Stadt schirmt Städte wie Kramatorsk. Bei dieser Form des Krieges kann die Festung Bachmut nicht umgangen werden. Eine frühzeitige Aufgabe der Stadt hätte keinen Sinn gehabt, denn sie hätte nur eine sehr kurze Zeit Entlastung gebracht. Wie ukrainische Militärs und Präsident Selensky richtig gesagt haben, wäre Kiew nur wenige Wochen nach einer Räumung gezwungen gewesen, die gleiche Form von Kämpfen durchzustehen, nur eben in der nächsten Stadt. Zudem eignete sich Bachmut gut für die Verteidigung. Es ist eine kompakte, gegen das Umland abgegrenzte Stadt, die mit ihren Fabrikanlagen und Hochhäusern die Umgebung dominiert. Dazu begünstigen Flussläufe, Höhen und Bewaldung die Verteidiger. 

Zeit erkauft

Seit dem Fall der Nachbarstädte Sewerodonezk und Lissitschansk im Sommer 2022 gelang den Russen keine größere Eroberung im Donbass. Seitdem zieht die Festung Bachmut die russischen Angriffe auf sich und widersteht Putins Truppen. Das allein ist ein großer Erfolg. Denn so wird Russland in der Rolle des Eroberers seit über einem halben Jahr daran gehindert, weitere Kriegsziele zu erreichen. Sollte Bachmut nun doch fallen, haben die ukrainischen Opfer dem Land sehr viel Zeit erkauft. Als großen Sieg Moskaus kann man die Eroberung des Trümmerhaufens kaum verkaufen. Hinzu kommt, dass, sofern es Kiew gelingt, in der Nähe neue Stellungen zu beziehen, der russische Vormarsch zunächst nur die beinahe eingeschlossene Frontbeule um die Stadt betreffen wird.

Über ein halbes Jahr hat die Stadt Kiew Zeit erkauft. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass diese Zeit mit dem Fall der Stadt zu Ende gehen wird – und Kiew Moskau nicht daran hindern konnte, die Stadt letztlich doch zu erobern. Kiew kann mit solchen Festungen die russischen Kräfte binden und erschöpfen, doch keine eigenen Siege erzielen. Auf Dauer sind Kämpfe wie in Bachmut daher keine Lösung. Das Opfer der Truppen in Bachmut macht nur Sinn, wenn es Kiew gelingt, neue gepanzerte Truppen aufzustellen, alte Einheiten aufzufrischen und an einem anderen Ort eine erfolgreiche und raumgreifende Operation durchzuführen.

Etwa, falls die ukrainischen Streitkräfte zum schwarzen Meer vorstoßen können und so die Landbrücke vom Donbass zur Krim zerschneiden. Gelingt eine solche Offensive, wäre das Opfer gerechtfertigt. Gelingen den ukrainischen Streitkräften in diesem Jahr jedoch keine eindrucksvollen Rückeroberungen, ist der Ertrag der Schlacht um Bachmut sehr viel geringer. Dann wurde nur Zeit auf dem Weg in die Niederlage erkauft.

Sieg ohne Glanz  

Für Russland sieht der Ertrag ohnehin bescheiden aus. Richtig ist, dass die Stadt eine enorme militärische Bedeutung hat, die im Fall einer ukrainischen Niederlage kleingeredet werden wird. Nicht weil die Stadt an sich bedeutend ist, sondern weil sie als vorgelagerte „Festung“ die wenigen Donbass-Städte, die noch unter Kiewer Kontrolle stehen, schützt. Fällt sie, ist der Weg frei zur vollständigen Eroberung des Donbass – der aber ebenso mühsam sein wird, sollte Moskau nicht doch kühnere Operationen wagen. Für Triumph- und Siegesmärsche gibt es keinen Anlass. Zu verlustreich und zu langsam ging die Eroberung vonstatten, als dass man stolz auf sie sein könnte. Doch auch ohne Glanz: Kiew kann den Zeitgewinn, Moskau den Raumgewinn verbuchen.

Die Strategie des Fleischwolfes 

Bleibt die Frage nach den Verlusten. Die Kämpfe im Donbass entsprechen der Strategie eines Fleischwolfes, der deutsche Begriff aus dem Ersten Weltkrieg lautet „Blutmühle“. Nach diesem Rezept arbeiten beide Seiten. Das eigentliche Ziel der Kämpfe ist es, dem Gegner Verluste zuzufügen und die eigenen gering zu halten. Als Verluste zählen nicht allein die Toten, sondern auch die Vermissten, die Gefangenen und die dauerhaft Verletzten. Die tatsächliche Anzahl der Verluste beider Seiten sind unbekannt. Kiew wie Moskau blasen die Verluste des Gegners auf und spielen die eigenen herunter. Sicher ist, dass der Kampf um Bachmut verlustreich war und ist. Anzunehmen ist auch, dass die Wagner-Gruppe in der Phase sehr hohe Verluste hinnehmen musste, als kaum trainierte Strafgefangene in den Kampf getrieben wurden.

Hohe russische Verluste

Die Kiewer-PR-Meldungen über Human-Wave-Attacken sollte man mit Vorsicht genießen, wie auch die jüngste Auskunft, dass Wagner-Söldner nur noch mit Schaufeln bewaffnet angreifen müssen. Generell geht man davon aus, dass die Angreifer hier also die Russen im urbanen Gebiet deutlich höhere Verluste erleiden als die Verteidiger. Der Grundsatz gilt jedoch nur, wenn es zum buchstäblichen Sturm der Infanterie auf Gebäude und Gräben kommt. Die meisten Toten in Bachmut dürften jedoch Fernwaffen zum Opfer fallen, also Drohnen, Artillerie, Lenkwaffen und Scharfschützen. Wenn die Position einer Gruppe von Soldaten entdeckt und sie mit Fernwaffen bekämpft werden, erleiden die Infanteristen die Verluste – ganz unabhängig davon, ob sie in der größeren Perspektive nun „Angreifer“ oder „Verteidiger“ sind. Ein weiteres Problem besteht darin, dass Putin weit höhere Verluste ertragen kann als Selensky. Russland hat eine größere Bevölkerung als die Ukraine. Um in der Logik des „Fleischwolfes“ zu siegen, müssen ungleich mehr Russen als Ukrainer sterben. Dazu setzt das russische Militär gern Minderheiten aus entlegenen Gegenden ein, die Wagner-Söldner sogar Schwerkriminelle. Diese Verluste werden in den russischen Zentren wie Moskau und St. Petersburg kaum wahrgenommen, ganz anders in der Ukraine.PAID Schlacht um Bachmut 14.15

Umkehr der Verhältnisse  

Auch wenn man annehmen kann, dass die Russen bei der Einschließung Bachmuts hohe Verluste erlitten, droht der Vorteil für Kiew in der letzten Phase der Kämpfe zu schwinden. Seit einigen Tagen ist die Stadt von drei Seiten eingeschlossen, nur ein schmaler Hals führt noch in die Frontbeule hinein. In der sowjetischen Militärdoktrin nennt sich das ein „taktischer Kessel“. Der Zugang ist noch offen, er kann jedoch vom Gegner eingesehen werden und liegt im effektiven Wirkungsbereich seiner Waffen. Die russische Umschließung von drei Seiten macht es für die Ukraine schwer, den eigenen Truppen von außen Feuerschutz zu geben.

Spätestens mit dem Verlust der Höhen nördlich der Stadt haben die Russen diesen Zustand erreicht. Laut Doktrin wäre es nun ihr Ziel, diese Situation aufrechtzuerhalten, anstatt zu versuchen, die Stadt schnell zu erobern. Denn zumindest in der Theorie kann der Angreifer dem Gegner nun ohne große eigene Gefahr schwere Verluste beibringen. Fahrzeuge, die Verstärkungen und Munition in die Stadt hinein und Verwundete hinausbringen, werden beschossen.

Die ukrainischen Soldaten können sich nur in kleinen Gruppen über Feldwege bewegen und selbst dort können sie aufgespürt und getötet werden. Gleichzeitig wird die Verteidigung der restlichen Stadt schwieriger. Je kleiner das von Kiew beherrschte Gebiet wird, desto mehr müssen die Truppen zu einer statischen Verteidigung übergehen, weil Positionen mangels Raums nicht mehr flexibel geräumt und verlegt werden können. Sind sie dem Gegner aber einmal bekannt, kann er sie in aller Ruhe mit schweren Waffen ausschalten.

Derzeit ist nicht zu erkennen, dass Kiew den Belagerungsring mit einer Gegenoffensive aufsprengen könnte. Wenn das nicht geschieht, kommt alles darauf an, dass das ukrainische Militär den richtigen Zeitpunkt findet, um die restlichen Truppen mit geringen Verlusten aus der Stadt zu ziehen. Im schlimmsten Fall würden sie wie in Mariupol eingeschlossen oder sie müssten sich kilometerweit durch eine russische Feuerzone kämpfen. Dann hätten die Russen der Ukraine eine erneute Niederlage wie in Debalzewe 2015 hinzugefügt.

Entscheidend für die Bewertung der Schlacht wird sein, wie es Kiew gelingt sie zu beenden. Gelingt ein Rückzug ohne nennenswerte Verluste kann die Ukraine den Zeitgewinn und die starke Abnutzung der russischen Kräfte für sich verbuchen. Gelingt es nicht, dann ist Putins Fleischwolf-Strategie aufgegangen.

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