Seit die Hamas Israel überfallen hat, wehrt sich das Land mit massiven Bombardements und zunehmend mit Bodentruppen. Dabei sterben täglich Zivilisten im Gazastreifen. Viele werfen Israel deshalb Völkermord vor. Doch was ist da dran?
Mit jeder Rakete, die im Gazastreifen einschlägt, wird der Ton gegenüber Israel rauer. Seit der Konflikt zwischen der militanten Hamas und Israel in einem blutigen Krieg eskalierte, solidarisieren sich Menschen weltweit mit den Zivilisten im Gazastreifen und verurteilen Israel, das sich nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober gegen die Terrormiliz verteidigt. Die Israel-Kritik gipfelte zuletzt in einem bemerkenswerten Statement der Klimaaktivistin Greta Thunberg. Sie warf dem Land vor, im Gazastreifen einen Völkermord zu verüben.
Mit der Meinung steht Thunberg nicht alleine da. In New York und Washington protestierten Menschen gegen den „Genozid“ in Gaza – darunter auch Rabbiner der Gruppe Jewish Voice for Peace, die in New York von einem Völkermord „in unserem Namen“ sprachen. Politiker wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan äußerten sich ähnlich.PAID Interview Philippe Sands 09.12
Klare Worte fand auch der bisherige Leiter des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, Craig Mokhiber. Er trat jüngst von seinem Amt zurück und kritisierte dabei die Vereinten Nationen. „Wieder einmal sehen wir, wie sich ein Völkermord vor unseren Augen abspielt, und die Organisation, der wir dienen, scheint machtlos zu sein, ihn zu stoppen“, schrieb er laut einem Bericht des „Guardian“ an die Kollegen in Genf. Die massenhafte Tötung der Palästinenser im Gazastreifen basiere „auf einer ethno-nationalistischen kolonialen Siedlerideologie (…) der jahrzehntelangen systematischen Verfolgung und Säuberung“. Sein Fazit: „Dies ist ein klassischer Fall von Völkermord.“
Doch so eindeutig ist die Lage bei Weitem nicht.
Was ist ein Genozid?
Der Begriff Genozid wird mit Völkermord gleichgesetzt und geht auf den von den Nazis verübten Holocaust zurück. Eingeführt hat ihn der jüdische Jurist Raphael Lemkin, um die Ermordung der Juden zu benennen. Lemkin setzte sich zudem dafür ein, dass der Völkermord nach internationalem Recht bestraft wird. Der Begriff wurde 1948 in die Genfer Konvention aufgenommen.
Von einem Völkermord oder Genozid sprechen Juristen dann, wenn folgende Handlungen aus rassistischen, ethnischen oder religiösen Gründen begangen werden:
- Tötung
- schwerer körperlicher oder seelischer Schaden an Mitgliedern einer Gruppe
- Auferlegung von Lebensbedingungen, die Mitglieder oder ganze Gruppen vollständig zerstören können
- Maßnahmen, die Geburten innerhalb einer Gruppe verhindern
- gewaltsame Überführung von Kindern in eine andere Gruppe
Scholz zu Genozid-Behauptung von Putin 19.30
Beispiele für Völkermorde gibt es einige: unter anderem die Vergehen der deutschen Kolonialmacht an den Herero und Nama 1904 und 1908. Das UN-Kriegsverbrechertribunal für Ruanda hat die Tötung Hunderttausender Tutsi in Ruanda (1994) als Völkermord bezeichnet. Der millionenfache Hungertod von Ukrainern und Bauern weiterer Nationalitäten durch die Sowjetunion in den 1930er Jahren (Holodomor), wurde von einem ukrainischen Gericht als Genozid bezeichnet. Derzeit werfen sich Kiew und Moskau im Zusammenhang mit der russischen Invasion wieder Genozid vor. Der Internationale Gerichtshof und das UN-Kriegsverbrechertribunal für Jugoslawien haben den Massenmord der Serben an den Bosniaken ebenfalls als Völkermord bezeichnet. Und der deutsche Bundestag spricht im Hinblick auf die Tötung unzähliger Jesiden (2014-2017) durch den Islamischen Staat von einem Genozid.
Es darf nur ein Motiv geben
Laut Völkerrecht muss hinter all diesen Maßnahmen die Absicht stehen, eine Gruppe zu zerstören. „Allerdings muss das Ziel nicht erreicht werden, um den Tatbestand zu erfüllen und wegen Völkermordes bestraft zu werden“, sagt Lisa Wiese vom Institut für Völkerrecht an der Universität Leipzig dem stern. Ausschlaggebend sei die Zerstörungsabsicht, die „in der Regel aber sehr schwer nachweisbar ist“. Die Zahl der Opfer sei dabei eher unerheblich, könne aber auf entsprechende Absichten hindeuten.
Nach einem Urteil des Internationalen Gerichtshof im Fall Kroatien gegen Serbien im Jahr 2005 muss die Zerstörungsabsicht das einzige Motiv sein. Sobald andere Gründe offensichtlich werden, kann der Tatbestand Völkermord abgelehnt werden. „Die Zerstörung der Gruppe muss das einzige Handlungsziel des Täters sein“, betont Wiese.
Keine Hinweise auf Völkermord im Gazastreifen
Im Krieg zwischen Israel und der Hamas ist der Fall nach Einschätzung von Juristen nach aktuellem Imformationsstand nur schwer zu bewerten. „Auch wenn einzelne Handlungen der israelischen Streitkräfte als Kriegsverbrechen bezeichnet werden können, bedeuten diese nicht zugleich einen Völkermord“, sagt Matthias Hartwig vom Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht gegenüber dem stern. Bisher habe Israel nicht die Absicht geäußert, die Bevölkerung in dem Küstenstreifen auszulöschen. Der Militäranalyst am Institut für Nationale Sicherheitsstrategie (INSS) in Tel Aviv, Kobi Michael, sagte im ZDF-Interview lediglich, Israel müsse „die Hamas als militärische Organisation auslöschen“.
Rechtswissenschaftlerin Lisa Wiese von der Universität Leipzig räumt zudem ein, dass Israel nach dem Völkerrecht ein Selbstverteidigungsrecht zusteht. Das schließe den Einsatz militärischer Gewalt – im Rahmen des humanitären Völkerrechts – mit ein. In einem anderen Fall stellte der Internationale Gerichtshof zudem fest, dass Gewaltandrohung oder Gewalttaten gegen einen anderen Staat allein nicht ausreichen, um von einem Genozid zu sprechen. Insgesamt sind sich die Juristen einig, dass es zum jetzigen Zeitpunkt keine Hinweise auf einen Genozid in Gaza gibt. Laut Hartwig sei es für eine endgültige Bewertung aber auch noch zu früh. Je nachdem wie sich der Konflikt entwickelt, können sich auch Hinweise auf einen Genozid häufen.
Quellen: Bundeszentrale für politische Bildung, Haus der Wannsee-Konferenz, Genocide Convention, „The Guardian“, ZDF, mit Material von DPA und AFP.
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