Muftah Yusuf Abdelwahed und seine Familie sind zurück in Tawergha, ihrer Heimatstadt unweit des Mittelmeers im Westen von Libyen. Im Juli 2018 hatte die Familie schon einmal eine Nacht in ihrem alten Haus verbracht – damals noch voller Angst inmitten ihrer verlassenen Nachbarschaft. Jetzt sind sie alle zurückgekehrt. Für immer, hoffen sie.
Ruß klebt immer noch an einigen Wänden. Kaum Möbel, eine Kommode, der Kühlschrank, sonst liegen nur Matratzen und Kissen in den kahlen Räumen. Neue Fenster sind eingebaut, das Dach repariert. Das Weiß der Plastikrahmen leuchtet frisch aus dem dunklen Grau hervor, das sich quer durch das Haus zieht. Im Vorhof stolzieren ein paar Hühner in einem Gehege.
Tawergha in Libyen: Neustart zwischen Blindgängern
Um nach Tawergha zurückzukehren, braucht es vor allem eines: Mut. Am 11. August 2011 waren Abdelwahed und seine Familie aus der Stadt geflohen. Das war kurz bevor die Aufständischen Diktator Muammar al-Gaddafi und sein Regime in Tripolis stürzten.
Tawergha galt als eine Bastion des Regimes. Die Nachbarstadt Misurata als eine Hochburg der Revolution. Und von beiden Seiten gab es die blutrünstigste Propaganda über den jeweils anderen. Die Rebellen seien Kindermörder, die Menschen von Tawergha schon immer kriminelles Gesindel. Der Familienvater sah, wie der Hass auf beiden Seiten immer größer wurde. Zwischen Misurata und Tawergha wurde heftig gekämpft. Abdelwahed sah Tuareg zur Front eilen, Soldaten der Regierungstruppen mit schwerem Gerät, erzählt er. Das Staatsfernsehen versprach ihren schnellen Sieg.
Stattdessen kamen die Kämpfe immer näher. Einschläge von Granaten und Raketen. „Die Alten und Kranken waren schon in Sicherheit“, berichtet Abdelwahed. Dann sei er mit seiner ganzen Familie geflohen, alle quetschten sich in seinen Kleinwagen. Tawergha verwandelte sich in eine menschenleere Trümmer- und Häuserwüste. Die etwa 40.000 Einwohner sind bis heute auf der Flucht.
Alles geht nur in kleinen Schritten voran
Tawergha ist eine Geisterstadt, rund 600 Menschen sind erst zurückgekehrt. In eine Stadt, in deren Häusern oftmals die Kämpfe ihre Spuren hinterlassen haben. Und ihre Hinterlassenschaften. Blindgänger und Sprengsätze sind eine Gefahr. Die Hilfsorganisation Handicap International (HI) sichert Haus für Haus. Ist wieder ein Gebäude freigegeben, sprayen die Bombenentschärfer und Minenräumer mit blauer Farbe das Logo der Organisation und einen Vermerk an die Wand.
Doch für die Rückkehrer ist Tawergha eine einzige Herausforderung. Strom- und Wasserversorgung, alles kommt nur in kleinen Schritten wieder in Gang. Immerhin, es gibt eine Einkaufsmöglichkeit und in einem Container einen Gesundheitsposten. Auch die Schule hat wieder geöffnet. Wenn das Schulteam von HI kommt, erfahren die Kinder, wie ein Blindgänger aussieht. Dass man ihn nicht anfasst und einem Erwachsenen Bescheid gibt. Das jüngste Kind von Abdelwahed ist erst drei. Die Eltern machen sich Sorgen.
„Aber wir glauben alle an unsere Stadt“, sagt der Familienvater. Seine Frau unterrichtet als Lehrerin an der Schule. Vor dem Sturz des Gaddafi-Regimes arbeitete Abdelwahed in einer großen Hühnerfarm. Dort gackert kein Huhn mehr, so wie in den anderen Betrieben der Stadt Stille herrscht. Wenn denn überhaupt mehr übrig ist als nur eine Ruine. Das alte Regime hatte Großes mit Tawergha vor. Ein ganz neues Stadtviertel für Zehntausende Menschen wurde aus dem sandigen Boden gestampft. Es blieb unvollendet. Selbst ein Lokalpatriot wie der 49-Jährige hält nicht ernsthaft für möglich, dass hier jemals Leben einkehren wird.
Die Jahre in Tripolis waren hart
Seine Familie lebt seit Generationen in der Stadt. Sein Haus hat eine traurige Geschichte. Sein Bruder fiel 1986 im Grenzkrieg im Tschad. „Er war gerade 20 Jahre alt“, sagt Abdelwahed. Die Regierung schenkte der Familie damals ein Haus: das Haus von Muftah Yusuf Abdelwahed. „Jeder Stein erinnert mich an meinen Bruder“, sagt er. Schon allein deshalb wäre es ihm nicht in den Sinn gekommen, Tawergha als Heimat aufzugeben.
Seiner Familie gab Tripolis wenig Gefühl für Heimat. „Wir haben alle zusammen erst in einem Zimmer, dann in einer Zweizimmerwohnung gelebt. Meine Frau musste ihren Schmuck verkaufen. Aber ich will nicht klagen, anderen ging und geht es in den Unterkünften viel schlechter“, sagt der 49-Jährige. In Tripolis half er jungen Binnenvertriebenen als eine Art Sozialarbeiter einer islamischen Wohlfahrtsorganisation, für die er heute noch arbeitet. In Tripolis suchte er das Gespräch mit den Revolutionären aus Misurata. „Wir müssen miteinander auskommen und zusammen an einer Zukunft bauen. Sonst kommen wir im ganzen Land nicht weiter“, sagt er. Die Jahre in Tripolis waren hart.
„Aber wir haben es geschafft“, sagt er. Abdelwahed ist kein Mann, der sich von Wut leiten lässt. Eine Riese von einem Mann, mit mächtigen Händen und einem dunklen, freundlichen Gesicht. Seine Hautfarbe, die dunkler ist als die vieler anderer Libyer, hat es ihm manchmal nicht leicht gemacht, „bei einigen in Tripolis“. Aber auch das hat er hingenommen.
Nur bei einem, da ballt er noch immer kurz die Faust. „Dass unsere Kinder ungerecht behandelt wurden, dafür gibt es keine Entschuldigung.“ Seine älteste Tochter sei immer ungerecht benotet worden. „Wie oft hat sie deswegen geweint. Sie konnte lernen, so viel sie wollte, alles perfekt wissen. Die Note blieb immer schlecht“, berichtet der Vater. „Lass dich nicht verunsichern, glaub an dich. Hauptsache, du schaffst die Schule“, sagten die Eltern dann ihrer Tochter.
Im Video: Kampf um Tripolis
„Jetzt sind wir wieder zu Hause. Haben Platz und eine Zukunft“, sagt Abdelwahed. „Die Baumaterialhändler von Misurata helfen uns. Sie sind fair“, sagt er. Doch für so manch andere in Tawergha ist die 35-minütige Fahrt nach Misurata immer noch ein Abenteuer, das man nur wagen sollte, wenn es nicht anders geht.
Abdelwahed fürchtet eine Rückkehr des Kriegs
Abdelwahed macht sich heute trotzdem wieder auf den Weg in die Nachbarstadt. Es geht um Baumaterial für sich und Freunde. Von Behörden hatte er eine Förderung zum Wiederaufbau bekommen, doch die ist schon lange aufgebraucht. „Wir müssen schon genau rechnen“, sagt das Familienoberhaupt.
Dann schunkelt sein kleiner schwarzer Toyota über die unbefestigte Straße an den leeren Häusern der Nachbarschaft und ausgebrannten Autos vorbei Richtung Checkpoint. Nicht weit hinter den Blocks, die er dann passiert, ist gerade ein Minenräumer-Team von Handicap International im Einsatz. Sammelt Teile von Grad-Raketen und Artilleriegranaten ein. Tag für Tag finden sie Blindgänger im sandigen Boden. „Einmal sind wir dabei sogar auf deutsche Minen aus dem Zweiten Weltkrieg gestoßen“, sagt der Chef des Teams, Simon Elmont.
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27.04.2019, 03:00 Uhr
Ohne Gewähr
Till Mayer
Dunkle Reisen
Abdelwahed hofft, dass nicht schon bald neue Sprengsätze und Blindgänger dazu kommen. In Libyen werden die Zeiten seit einigen Wochen wieder unruhiger, Kämpfe branden um die Hauptstadt auf. General Khalifa Haftar, der den Osten Libyens kontrolliert, will nun auch Tripolis und Westlibyen erobern. Die Miliz von Misurata leistet erbitterten Widerstand. Der Krieg kann schnell auch wieder nach Tawergha zurückkehren. Das weiß Abdelwahed, der sich nur eines wünscht: dass er seinen Kindern endlich wieder eine sichere Heimat geben kann.
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