An der von der Oppositionspartei CHP organisierten Kundgebung in einem Park am Marmara-Meer im Istanbuler Stadtteil Maltepe haben nach Angaben regierungskritischer Medien mehr als 100.000 Menschen teilgenommen. Die Organisatoren sprachen sogar von bis zu zwei Millionen Teilnehmern. Die Veranstaltung fand unter hohen Sicherheitsvorkehrungen statt. Der TV-Sender CNN Türk berichtete unter Berufung auf den Gouverneur von Istanbul, 15.000 Polizisten seien im Einsatz.
Die Massenkundgebung war der Abschluss des rund 425 Kilometer langen „Marsches für Gerechtigkeit“, den der CHP-Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu, 68, am 15. Juni in Ankara gestartet hatte. Auf dem Weg begleiteten ihn auf den letzten Etappen Zehntausende, darunter auch Anhänger anderer Parteien. Am Abend in Istanbul schwenkten die Menschen türkische Fahnen und skandierten „Recht, Justiz, Gerechtigkeit“. Auf vielen Bannern prangte das türkische Wort „Adalet“ (Gerechtigkeit).
Der 68-Jährige forderte vor seinen Anhängern das Ende des Ausnahmezustands, die Entlassung von inhaftierten Journalisten und die Wiederherstellung der Unabhängigkeit der türkischen Gerichte. „Wir leben derzeit in einer Diktatur“, rief er der Menge zu.
Anlass des Protestmarsches war die Verurteilung des CHP-Abgeordneten Enis Berberoglu zu 25 Jahren Haft wegen Geheimnisverrats. Der Marsch richtete sich gegen die Politik des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan und seiner islamisch-konservativen Regierung. Laut Kilicdaroglu hat sich im Zuge des nach dem Putschversuch verhängten Ausnahmezustands ein „Klima der Angst“ in der Türkei breitgemacht. Ein Interview mit Kilicdaroglu von unserem Türkei-Korrespondenten Maximilian Popp lesen Sie hier.
„Dies ist der längste politische Marsch in der Weltgeschichte, sowohl was die Teilnahme, als auch seine Länge und Dauer betrifft“, sagte der CHP-Abgeordnete Özgür Özel auf der letzten Etappe. „Millionen schreiben heute Geschichte.“ Es sei die größte Kundgebung der Opposition seit den Gezi-Protesten im Sommer 2013.
„Heute gibt es keine Gerechtigkeit mehr in der Türkei. Unsere Schriftsteller sind im Gefängnis, unsere Professoren sind im Gefängnis, unsere Intellektuellen, unsere Studenten“, sagte die Demonstrantin Aynur auf der Abschlusskundgebung. „Es gibt keine Armee mehr, keine Bildung mehr, und wir werden von ungebildeten Leuten regiert. Deshalb fordern wir Gerechtigkeit.“
„Wir sind Tausende heute hier, die für die kommenden Generationen Gerechtigkeit wollen“, sagte ein Demonstrant. Die meisten waren mit der Fähre oder Metro aus Istanbul gekommen, doch einige waren zusammen mit Kilicdaroglu den ganzen Weg marschiert. Am Sonntag besuchte Kilicdaroglu den Abgeordneten Berberoglu in einem Gefängnis in Maltepe.
Präsident Erdogan hatte Kilicdaroglu wiederholt vorgeworfen, mit dem Marsch „Terroristen“ zu unterstützen, die Regierung schritt aber nicht gegen den friedlichen Protestzug ein. In den türkischen Medien fand der Marsch zuletzt große Aufmerksamkeit. Während regierungstreue Zeitung teils vom „Marsch der Verräter“ schrieben, lobten andere Kolumnisten, dass es Kilicdaroglu erstmals gelungen sei, mit dem Marsch die Opposition wieder in die Offensive zu bringen.
Kilicdaroglu war immer wieder vorgeworfen worden, Erdogan nicht entschieden genug entgegenzutreten. Seit dem Putschversuch vor einem Jahr wurden zehntausende Polizisten, Soldaten, Juristen, Lehrer und Wissenschaftler aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert. Auch Journalisten, Oppositionspolitiker und andere Regierungsgegner wurden inhaftiert.
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