DIE ZEIT: Herr Chodorkowski, was ist Russland heute für ein Land?
Michail Chodorkowski: Heute ist die Macht personifiziert, und der politische Führer steht höher als das Gesetz. Die Institutionen sind zerstört worden, die Bildung leidet am meisten. Den Menschen fällt es zunehmend schwer, komplizierte Strukturen zu begreifen, und diese Entwicklung betrifft gewiss nicht nur Russland, sondern auch Deutschland und Großbritannien. In Russland finden die Menschen, dass sie schlecht leben, Putin aber halten sie für einen guten Herrscher. Der Gedanke, dass ihr Leben schlecht ist, weil sich die Machthaber nicht für sie interessieren, weil sie nicht wissen, wofür ihre Steuern ausgegeben werden, kommt ihnen nicht. Sie verstehen nicht, dass die Macht so ist, wie sie ist, weil Putin sie in den vergangenen 16 Jahren so erschaffen hat.
ZEIT: Was für ein Mensch ist Präsident Putin?
Chodorkowski: Ich habe ihn seit Jahren nicht persönlich getroffen. Aber er scheint sich nicht sehr verändert zu haben. Natürlich ist er erfahrener geworden. Früher verhielt er sich gegenüber hochrangigen westlichen Politikern mit Ehrfurcht. Heute hingegen meint er, dass sie schwach sind. Allein mit Angela Merkel verhält es sich anders, sie ist für Putin eine gefährliche Person. Er hat versucht, sie unter Druck zu setzen, aber er hatte damit keinen Erfolg. Wladimir Putin ist sich selbst treu geblieben. Für ihn entscheidet Geld über alles. Er glaubt an keine Institutionen und keine Regeln, und er ist davon überzeugt, dass einzelne Menschen alles entscheiden und man diese immer kaufen oder in Furcht versetzen kann. Er wittert überall Verschwörung. Man kann mit Putin keine Vereinbarungen schließen, weil er davon überzeugt ist, dass er mit Berufung auf Gesetze und bestehende Institutionen nur betrogen wird. Also sieht er sich moralisch im Recht, diese Vereinbarungen zu brechen.
ZEIT: Für Abkommen wie das von Minsk oder über die Waffenruhe in Syrien heißt das …
Chodorkowski: … dass sie so lange Bedeutung haben, wie ihre Einhaltung für Putin komfortabel ist.
ZEIT: Verstehen die Europäer diese Denkweise hinreichend?
Chodorkowski: Einzelne Experten verstehen das sehr gut, einschließlich Frau Merkel. Die Frage ist, ob das politische Establishment das versteht. Da habe ich Zweifel.
ZEIT: Wie wird sich das Verhältnis von Russland zu Europa entwickeln?
Chodorkowski: Die russische Elite geht davon aus, entweder Kompromisse mit Europa schließen oder Europa unter sich begraben zu können. Derzeit findet Putin, er habe noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, Europa niederzudrücken. Ihm ist es lieber, dass die EU auseinanderfällt, er mit jedem Land einzeln verhandeln und mithilfe der Rechts- und Linksradikalen Einfluss ausüben kann. Doch wenn Europa standhaft und einig bleibt, muss Putin Kompromisse schließen.
ZEIT: Sie möchten Russland verändern – wie?
Chodorkowski: Die grundlegenden Veränderungen dürfen nicht von einem einzelnen Menschen abhängen. Russland könnte sich in drei Richtungen entwickeln – in eine asiatische, in eine muslimische und in eine europäische, wie es seit 500 Jahren in Wellenbewegungen geschieht. Solange Sie und ich leben, wird sich daran nicht viel ändern. Aber man kann diese Entwicklung in eine europäische Richtung durch institutionelle Mechanismen unterstützen: durch die Stärkung der örtlichen Macht, die bisher sehr schwach ist, durch die Möglichkeit zum Machtwechsel sowie die Abschaffung der Superpräsidialmacht. Früher oder später wird Putin die Macht verlieren, und die russische Gesellschaft muss begreifen, dass es diese drei Probleme sind, die uns von einem normalen Leben abhalten. Wir brauchen ein präsidentiell-parlamentarisches Modell als Übergang und dann eine parlamentarische Demokratie.
Infobox Michail Chodorkowski
Putins Gegner
Im Jahr 2003 wird der Oligarch Michail Chodorkowski, in den 90er Jahren bei einer undurchsichtigen Privatisierung zum Mehrheitseigner am Ölkonzern Jukos aufgestiegen, zu neun Jahren Strafkolonie verurteilt – offiziell wegen Steuerhinterziehung und Betrugs. 2010 erneute Verurteilung wegen angeblicher Unterschlagung. 2013 wird Chodorkowski begnadigt. Seitdem lebt er im Exil, derzeit in London. Seit seiner Entlassung unterstützt er über seine Stiftung und soziale Plattform Offenes Russland unter anderem Oppositionelle in seinem Heimatland. Im Dezember 2015 wird er neuerlich in Russland angeklagt, dieses Mal wegen eines angeblichen Mordes.
ZEIT: Ihnen schwebt Parlamentarismus vor?
Chodorkowski: Wir können nicht sofort eine parlamentarische Republik werden, dazu ist die Gesellschaft nicht bereit. Die Menschen wollen einen Zar haben, und der kann jung, alt, gut, schlecht sein. Deshalb schlagen wir von der Plattform Offenes Russland vor, seine Befugnisse durch andere Machtzweige auszubalancieren.
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