Es ist ein warmer Novembermontag in Odessa, als Michail Saakaschwili seinem alten Freund den Krieg erklärt. Weder seinen beiden Leibwächtern, die ihn rund um die Uhr begleiten, noch seinen Beratern hat er von diesem Schritt erzählt. Michail Saakaschwili vertraut bei weitreichenden Entscheidungen nur seinem Bauchgefühl.
Bevor es losgeht, sitzt er noch an seinem Schreibtisch in der fünften Etage des Verwaltungsgebäudes. Noch ist er Gouverneur Odessas, der größten Region der Ukraine. Sein Amtssitz ist ein Plattenbau aus Sowjetzeiten, doppelte Türen, damit kein Geräusch nach außen dringt. Schräg über ihm hängt ein Foto an der Wand. Petro Poroschenko schaut von dort herab, der Präsident der Ukraine und sein Freund seit mehr als 30 Jahren. Er könnte das Bild jetzt abnehmen. Aber wer würde das mitbekommen? Nein, er hat Größeres vor. Bei dem Gedanken daran blitzt zwischen den Pausbäckchen das Mischa-Lächeln auf. Er wirkt nun wie ein kleiner Junge, der so gerne ein Spiel spielt, dass er damit einfach nicht aufhören kann.
Michail Saakaschwilis Lieblingsspiel ist die ganz große Politik, in der man Leute begeistern, beeinflussen oder erpressen muss. In der man seinem Machtinstinkt vertrauen muss. Auf manche, die Saakaschwili nur kurz erleben, wirkt er wie ein Besessener. Auch weil er so extrovertiert, aufgedreht und voller Ideen ist, dass er kaum still sitzen kann. Aber wenn man ihn mehrfach trifft, viele Tage mit ihm verbringt, entdeckt man hinter den quirligen Auftritten auch eine ungewöhnliche Klarheit. Saakaschwili, so scheint es, hat einen Plan.
Als er gerade mal 40 war, führte er das erste Mal Krieg
Im kommenden Jahr feiert er seinen 50. Geburtstag. Geboren ist Saakaschwili in Georgien, dem kleinen Land auf der anderen Seite des Schwarzen Meeres. Mit 33 wurde er dort Justizminister, mit 35 Anführer der friedlichen Rosen-Revolution, mit 36 Staatsoberhaupt. Als er gerade mal 40 war, führte er das erste Mal Krieg. Russland hatte das nach Westen strebende Georgien angegriffen, setzte zum ersten Mal Cyberattacken in Kombination mit Luftangriffen ein. Nach nur fünf Tagen musste sich die georgische Armee zurückziehen. Teile des Landes sind heute noch unter russischer Kontrolle.
Während seiner zwei Amtszeiten hat Saakaschwili den georgischen Staat grundlegend verändert. Er wagte es, jenes Gift zu bekämpfen, das viele Staaten Osteuropas zersetzt: die Korruption. Als er das Präsidentenamt antrat, stand Georgien auf dem Korruptionsindex hinter Uganda auf Platz 133. Als er nach neun Jahren abgewählt wurde, lag sein Heimatland vor EU-Ländern wie Griechenland, Tschechien und Italien auf Platz 55. „Saakaschwili ging radikal vor. Am wichtigsten war seine Polizeireform. Er zerschlug auch die Bürokratie und ließ Beamte besser bezahlen“, sagt Tiku Ninua, die für Transparency International die Reformen in Georgien analysiert hat.
Viele Georgier sagen heute, Saakaschwili sei auch verantwortlich für Folter in georgischen Gefängnissen und Enteignungen von Privatbesitz, deshalb laufen Verfahren gegen ihn, die er für politisch motiviert hält. Was stimmt, lässt sich nur schwer sagen. Die Georgier sind aber auch stolz auf Saakaschwili. Darauf, dass er der Korruption den Nährboden entzogen hat. Nun will er diesen Kampf noch einmal führen, in der Ukraine. Er glaubt, dass sich Geschichte wiederholen kann. Und dass die Geschichte ihn dafür braucht.
Deshalb nahm er im Mai 2015 die ukrainische Staatsbürgerschaft an. Deshalb wurde er Gouverneur. Die Korruption ist in der ganzen Ukraine verbreitet. Aber in Odessa, wo mafiaähnliche Cliquen die Macht unter sich aufgeteilt haben, ist sie besonders heftig. Wer hier nicht ewig auf einen Arzttermin oder eine Baugenehmigung warten will, muss ein Bündel Griwna-Scheine unauffällig über den Tisch schieben. Die Korruption verhindert auch, dass der Staat genügend Steuern einnimmt, um seine Angestellten zu bezahlen oder die vielen Straßenlöcher endlich auszubessern.
Saakaschwili will das ändern. Dazu entließ er Hunderte Beamte und wählte aus 7.000 Bewerbern neue, jüngere Mitarbeiter aus, die nun in der Zollbehörde, der Polizei und in der Regionalverwaltung arbeiten. Aber sein alter Freund, Petro Poroschenko, unterstützt ihn dabei nicht mehr. Am deutlichsten wird das im neuen Bürgerzentrum von Odessa, es soll ein Symbol sein für eine neue Ukraine. Es ist ein runder, offener Raum, von einem Ende zum anderen sind es mehr als 50 Meter. In der Mitte, in der Wartezone, steht eine geschwungene Sitzbank aus Holz, davor, gleich neben der „Kundenzone 2“, türmen sich Lego-Bausteine in der Spielecke. In der alten Ukraine musste man jemanden gut kennen oder ein paar Scheine mitbringen, um rasch einen neuen Pass zu bekommen oder eine Firma anzumelden. Hier hängen an der Decke Kameras, die Bestechungszahlungen filmen sollen.
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Das süße Gift der Bestechung: Das Ausmaß
Laut dem aktuellsten Bericht von Transparency International glauben mehr als drei Viertel der Ukrainer, ihr Parlament sei korrupt. 74 Prozent halten die Parteien für käuflich. Im Korruptionsindex von Transparency International steht die Ukraine auf dem 130. Rang von 168.
Die Profiteure
Die größten Empfänger von Schwarzgeld im täglichen Leben sind Polizisten, Ärzte und Mitarbeiter des Bildungswesens. Das Durchschnittseinkommen liegt bei etwa 200 Dollar pro Monat. Allein im Gesundheitswesen zahlt durchschnittlich jeder Ukrainer etwa 50 Dollar Schmiergeld pro Jahr. Ohne diese Zahlungen könnten viele Arztpraxen und Krankenhäuser gar nicht arbeiten.
Der Kampf dagegen
Fast alle Politiker versprechen, die Korruption zu bekämpfen, so auch Präsident Petro Poroschenko. Für 72 Prozent der Ukrainer sind korrupte Politiker jedoch der Hauptgrund, warum echte Reformen im Antikorruptionskampf ausbleiben.
Die Eröffnung des Bürgerzentrums vor gut einem Jahr war ein Ereignis von nationaler Bedeutung. Ein ukrainisches Orchester spielte die Europahymne. Viele TV-Teams waren gekommen, zusammen mit dem Präsidenten. „Die Ukraine hat 24 Jahre auf diesen Moment gewartet, ab jetzt wird an diesem Ort die Korruption bekämpft und eine neue Strophe der EU-Hymne geschrieben“, hatte Poroschenko damals gesagt, kurz bevor er ein rotes Band zur Eröffnung zerschnitt.
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