Gegen Abend stehen sie im Schlamm von Bangladesch, der junge Abdur Rahim und seine Frau Nasmin, und Abdur Rahim hält ihren Jungen im Arm. Ihren toten Jungen.
Sie können nicht reden, sie weinen nur, starren vor sich hin. Weinen, bis die Augen rot sind. Sagen kein Wort.
Vor ihnen, auf der Straße, drängt sich ein Stau aus Menschen, Tausende sind auf der Suche nach einem Schluck Wasser oder einem Sack Reis. Abdur Rahim und Nasmin haben ein totes Kind bei sich, aber kaum jemand beachtet sie.
Niemand hier hat Zeit für Trauer.
Wer kein Bürger ist, darf nichts besitzen
Niemand sieht, wie Abdur Rahim dem Jungen die Decke übers Gesicht legt. Und wie Nasmin kurz darauf die Decke wieder wegschiebt und sich noch einmal das Gesicht ihres Jungen ansieht.
Wohin jetzt? Sie haben kein Geld mehr, kein Handy. Abdur Rahim ist 19, Nasmin 18, Ausweise haben sie noch nie besessen. Sie hatten kaum jemals ihr Dorf verlassen, waren noch nie allein ohne ihre Familie.
Rechtlose Menschen sind sie, in Myanmar geboren als Angehörige der Rohingya, der muslimischen Minderheit des Lands. Eine Million Rohingya lebten dort, bis die Vertreibung begann. Nie hat Myanmar sie als Bürger anerkannt, sie waren staatenlos. Nie wussten sie, ob sie ihre Kuh behalten dürfen oder ihre Reisernte oder ob jemand kommt und sich nimmt, was er will. Wer kein Bürger ist, darf nichts besitzen.
Seit Jahren hetzen buddhistische Mönche gegen die Muslime, viele Bürger haben Vorurteile gegen sie. Im August griffen radikale Rohingya mehrere Polizeistationen an und töteten zwölf Sicherheitskräfte, seitdem entlädt sich der Hass. Mobs aus Soldaten und Zivilisten stürmen die Siedlungen der Rohingya in der Provinz Rakhine nahe der Grenze zu Bangladesch und zünden Haus für Haus an, Dorf für Dorf. Sie wollen alles auslöschen.
Mehr als 400.000 Rohingya sind über die Grenze geflohen, nach Bangladesch, wo sie niemand erwartet hat und wohin kaum Hilfe gelangt. Es ist noch Monsunzeit, jeden Tag regnet es, das Land ist überflutet. Die Flüchtlinge stranden im Grenzgebiet, im Nichts, sie siedeln entlang der einzigen Straße in der Region, von der Grenze zur Kleinstadt Cox’s Bazar, sie bauen sich Zelte aus Planen und Bambusrohren. Ein improvisiertes Flüchtlingslager, das jeden Tag wächst.
Menschen, die nur noch ans Überleben denken
Es kommt zu apokalyptischen Szenen, wenn einer der wenigen Lastwagen mit Reis anhält, und alle auf ihn zurennen und sich gegenseitig halb tottrampeln.
Auf den Wagen stehen Männer und schlagen mit Bambusstöcken auf Menschen ein, die versuchen, auf die Ladefläche zu klettern. Sie schmeißen die Säcke mit Reis in die Menge, und jedes Mal geht ein Kampf los, derjenige, der den Sack an sich gerissen hat, muss ihn gegen Angreifer verteidigen.
Eine Frau fällt zu Boden, während eine andere auf sie einschlägt, um ihr den Sack Reis wegzunehmen. Mit beiden Armen umklammert die Frau am Boden den Sack, wimmernd, die andere lässt nicht von ihr ab. Irgendwann, als es ihr gelingt aufzustehen, tritt sie auf ein Ende ihres Schals. Der Schal stranguliert ihren Hals, ihre Augen weiten sich. Sie schafft ein paar Schritte, dann sackt sie zu Boden und fängt an zu schluchzen.
Menschen, die sich verzweifelt an einen Sack klammern. Menschen, die nur noch ans Überleben denken.
Menschen ohne Würde, man hat sie ihnen genommen.
An den Rändern dieses Orts, der keine Zuflucht ist, legen sie sich nachts auf den nassen Boden. Es sind die Neuen, die sich noch keine Zelte bauen konnten. Dort stehen auch Abdur Rahim und Nasmin und warten, nicht wissend, worauf.
Es war der 4. September, als am Morgen der Mob ihr Dorf erreichte, drei Dutzend Soldaten und noch mal so viele Zivilisten, sie schrien: Verschwindet aus unserem Land, ihr gehört nicht hierher!
Niemand belangte die Soldaten für die Vergewaltigungen
Die Soldaten schossen wahllos, während sich Abdur Rahim und Nasmin aus ihrem Bauernhaus schlichen, sie waren gerade ein Jahr verheiratet. Er, der Reisbauer, sie, die schwangere Frau. Geduckt rannten sie in den Wald, sahen noch, wie hinter ihnen Rauchsäulen aufstiegen. Die Männer gossen Benzin an die Häuser, dann warfen sie brennendes Holz hinein. Das Dorf gab es nicht mehr.
Sie liefen einen Tag und eine Nacht lang, bis sie den Grenzfluss zu Bangladesch erreichten, den Naf. Dort warteten schon Tausende andere. Helikopter der Armee kreisten über ihnen, aber hier, am Fluss, ließen die Soldaten sie in Ruhe. Myanmar, der Staat, der sie nie wollte, ließ sie gehen.
So erzählen Nasmin und Abdur Rahim ihre Geschichte, sie ist nicht zu über prüfen, weil Myanmar keine Journalisten in das Grenzgebiet lässt. Doch alle Flüchtlinge, die befragt wurden, unabhängig voneinander, erzählen das Gleiche: von Mobs, von Bränden und von Vertreibung.
Sie haben ein Land verlassen, in dem sie nie zur Schule gehen durften und sie ohne Barbezahlung kein Arzt behandelte. In dem sie jederzeit zu Zwangsarbeit verpflichtet werden konnten und es oft vorkam, dass sich Soldaten ein Rohingya-Mädchen nahmen. Niemand belangte die Soldaten für die Vergewaltigungen, die Mädchen existierten ja offiziell nicht in Myanmar. Jemand, der nicht existiert, kann niemanden verklagen.
Als eines der Fischerboote aus Bangladesch ankam, zahlte Abdur Rahim dem Fischer umgerechnet 60 Euro für sich und Nasmin, sein Geld reichte gerade so. Mit vielleicht 20 anderen stiegen sie auf das Boot. Die Fahrt über den Naf dauerte eine halbe Stunde, dann sprangen sie ins seichte Wasser und liefen zum Strand.
Das halbe Volk ist schon geflohen
Jede Stunde kommen derzeit die Boote in Bangladesch an, sie bringen Kinder, Erwachsene, Greise, das halbe Volk ist schon da. Und vielleicht lassen die Mobs in Myanmar nicht von ihnen ab, bis sie alle das Land verlassen haben.
Am Strand angekommen sacken viele von ihnen zusammen. Kinder zerren an ihren Müttern, aber die reagieren nicht, sie sind in sich versunken. Eine ältere Frau legt sich flach auf den Strand, weißer Schaum quillt aus ihrem Mund. Irgendwann trägt jemand sie weg.
Daneben spielen Kinder aus den umliegenden Dörfern Fußball, sie haben sich gewöhnt an das Schreien und an das Sterben. Und an die Feuer auf der anderen Seite des Naf, man kann die Brände gut erkennen. Es ist, als wollte Myanmar den Flüchtlingen eine letzte Drohung schicken: Kommt nie mehr zurück.
Sie gingen vom Strand aus zu Fuß los, Abdur Rahim und Nasmin, einen Bus konnten sie sich nicht mehr leisten. Sie liefen den anderen nach, einige Stunden lang liefen sie, dann setzten bei Nasmin die Wehen ein. In einem Gemüseladen legte sich Nasmin auf den Verkaufstisch. Es war zu früh, sie war erst im siebten Monat, aber ihr Junge schaffte es, er kam zur Welt.
Ein kleines, schwaches Baby, in eine feindliche Welt geboren.
Als sie den Laden verließen, bemerkte sie ein Rikschafahrer. Sie fielen ihm auf, er spürte, dass sie seine Hilfe brauchten. Der Mann nahm sie mit zu sich nach Hause, in den nächsten Ort. Ein paar Tage konnten sie bei ihm bleiben. Seine Frau kümmerte sich um Nasmin und das Baby. Am Ende gab der Rikschafahrer Abdur Rahim ein bisschen Geld.
Es war im Jahr 1991, als Suu Kyi den Friedensnobelpreis erhielt
Abdur Rahim wollte ins Lager, zu den anderen Flüchtlingen, sich ein Zelt bauen. Vielleicht war es ein letztes bisschen Stolz, das sie ihre Gastfamilie verlassen ließ.
Es ist nicht leicht zu verstehen, warum die beiden und all die anderen Rohingya Myanmar verlassen mussten, woher der Hass kommt. Warum die Buddhisten so gewalttätig sind.
Myanmar – dieser Name klang in den vergangenen Jahren nach Aufbruch, das Land ist eine werdende Demokratie. Die Anführerin der Demokratiebewegung, Aung San Suu Kyi, hat 2015 die ersten freien Wahlen gewonnen, nach jahrzehntelanger Militärherrschaft. Die Verfassung verbietet Suu Kyi, Präsidentin zu werden, aber sie bestimmt als sogenannte Staatsrätin die Politik.
Es war im Jahr 1991, als Suu Kyi den Friedensnobelpreis erhielt. So viele Jahre lang war sie eine Frau, die mit Worten wirkte. Mit Gandhi wurde sie verglichen. Doch nun, zu den Verbrechen an den Rohingya, da schweigt sie. Offenbar treibt sie die weiterhin lebendige Angst vor dem Militär, das noch immer das Innen- und Verteidigungsministerium besetzt. Suu Kyi will die Generäle nicht angreifen, sie ist vorsichtig. Es käme den Militärs gelegen, wenn sie den Notstand ausrufen und wieder die Regierung übernehmen könnten. So lässt Aung San Suu Kyi also schweigend zu, was den Rohingya geschieht, protestiert nicht, mehr noch – sie streitet die Verbrechen ab.
Das Baby schloss die Augen und lebte nicht mehr
Sie weiß auch, dass viele ihrer Bürger den Rohingya misstrauen. Sie kennt die tief sitzenden Ressentiments gegenüber der muslimischen Minderheit, und sie weiß, wie einflussreich die radikalen buddhistischen Mönche sind. Die wollten die Rohingya schon lange vertrieben sehen.
Vielleicht ist die Abneigung gegen die Minderheit das Einzige, worauf sich fast alle in Myanmar einigen können. Das Land ist in einer Übergangsphase, der gesellschaftliche Frieden ist brüchig, Suu Kyi will ihn nicht riskieren. So beginnt die junge Demokratie mit einer ethnischen Säuberung.
Nasmin und Abdur Rahim, zwei Opfer dieser Politik, bemerkten im Flüchtlingslager, wie ihr Junge immer kränker wurde. Wie er irgendwann nicht mehr schrie, weil er zu schwach war. Er verstummte.
Mit dem Geld des Rikschafahrers stiegen sie in einen Bus, um in der Klinik der nächsten Stadt nach Hilfe zu fragen. Sie waren kaum losgefahren, als der Junge aufhörte zu atmen. Nasmin schrie panisch, aber niemand konnte ihnen helfen. Das Baby schloss die Augen und lebte nicht mehr.
Sie stiegen aus, der Bus fuhr weiter.
Da stehen sie, gleich wird es dunkel, es beginnt zu regnen, und sie können nicht denken in diesem Moment. Weinen nur. Sie stehen unter Schock. Wohin? Kein Ort zum Schlafen, kein Wasser, kein Essen. Sie müssen eigentlich ihr Kind beerdigen.
Abdur Rahim muss sich in eine Plastiktüte übergeben
Der einzige Wagen in der Nähe ist der des stern-Teams. Sie setzen sich auf die Rückbank, den Jungen auf dem Schoß. Zur Familie des Rikschafahrers möchten sie. Die Fahrt dauert eine Stunde, niemand sagt ein Wort. Abdur Rahim muss sich in eine Plastiktüte übergeben.
Als sie ankommen, fallen sie aufs Sofa der Familie, noch drei Stunden lang hält Abdur Rahim seinen toten Jungen im Arm. Nasmin sitzt daneben und schweigt.
Gegen Mitternacht dann, auf dem nächsten Friedhof, spricht ein Imam das Totengebet auf einen jungen Rohingya, als Flüchtling geboren in Bangladesch.
Er wurde zwölf Tage alt. Er hatte noch keinen Namen.
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