Es sind überwiegend Angehörige der muslimischen Minderheit der Uiguren. Fast eine Million von ihnen werden im Westen Chinas in Internierungs- und Umerziehungslagern festgehalten, Verdächtige ohne Gerichtsverfahren eingesperrt, Kinder von ihren Eltern getrennt.
Seit Jahren bestreitet Chinas Führung das Ausmaß der Verfolgung, seit Jahren erschwert sie unabhängigen Beobachtern den Zugang in die autonome Region Xinjiang. Der „New York Times“ wurde nun eine Reihe von Dokumenten zugespielt, welche die Beschwichtigungen chinesischer Diplomaten widerlegen und die schlimmsten Befürchtungen von Menschenrechtlern bestätigen.
Das Material, so die Zeitung, stammt „von einem Mitglied des politischen Establishments“ und umfasst 403 Seiten. Neben konkreten Handlungsanweisungen für Beamte in Xinjiang enthält es interne Untersuchungsberichte und Reden hoher Parteifunktionäre, darunter Mitschriften von vier bislang unbekannten Ansprachen von Staatschef Xi Jinping.
Ein weltweit einzigartiges System der Massenüberwachung
Das Autonomiegebiet Xinjiang, das etwa viermal so groß ist wie Deutschland und unter anderem an Pakistan, Afghanistan und Tadschikistan grenzt, wurde von Peking immer mit harter Hand regiert. Nach einer Reihe schwerer Anschläge zwischen 2009 und 2014, die militanten Islamisten zugeschrieben wurden, verschärfte die Regierung das Sicherheitsregime. Sie errichtete ab 2016 Hunderte von Internierungslagern und baute ein weltweit einzigartiges System der Massenüberwachung auf.
Wie die von der „New York Times“ veröffentlichten Dokumente belegen, geht diese Politik direkt auf Staatschef Xi Jinping zurück. In mehreren Reden hatte er 2014 zum „Kampf gegen Terrorismus, Unterwanderung und Separatismus“ aufgerufen, einem „Volkskrieg“, bei dem „absolut keine Gnade“ zu zeigen sei. Bislang waren nur Anspielungen auf diese Reden und kaum wörtliche Zitate veröffentlicht worden.
Chinas Staatschef Xi Jinping
Die nun bekannt gewordenen Passagen erklären zunächst die geo- und sicherheitspolitischen Motive von Chinas Führung: „Nachdem die Vereinigten Staaten Truppen aus Afghanistan abgezogen haben, könnten terroristische Organisationen aus den Grenzregionen Afghanistans und Pakistans Zentralasien unterwandern“, so Xi. „Terroristen, die in Syrien und Afghanistan Kriegserfahrung gesammelt haben, könnten jederzeit Anschläge in Xinjiang verüben.“
Eine „Periode schmerzhafter, interventioneller Behandlung“
Hatten seine Vorgänger neben Mitteln der Repression auch auf die wirtschaftliche Entwicklung der Region gesetzt, stellte Xi diese Strategie offenbar von Anfang in Frage: Zwar sei der Lebensstandard in Xinjiang gestiegen, zugleich aber hätten „ethnischer Separatismus“ und „terroristische Gewalt“ zugenommen: „Das zeigt, dass wirtschaftliche Entwicklung nicht automatisch zu dauerhafter Ordnung und Sicherheit führt.“
Auf Xinjiangs Bevölkerung komme deshalb eine „Periode schmerzhafter, interventioneller Behandlung“ zu. Mehrfach beschreibt Xi religiösen Extremismus mit klinischen Begriffen, ja vergleicht ihn mit einer Suchtkrankheit: „Sobald du daran glaubst, ist das, wie wenn du eine Droge nimmst“, zitiert die „New York Times“ aus einer Rede, die Xi vor führenden Parteikadern hielt: „Du verlierst deine Sinne, wirst verrückt und bist bereit, alles zu tun.“
Diese Sprache findet sich fast wörtlich in Texten wieder, die etwa die Stadt Turpan Beamten an die Hand gibt, um Fragen von Kindern zu beantworten, deren Eltern im Lager sitzen. Ihre Väter und Mütter, heißt es dort, seien mit Menschen zu vergleichen, die an „bösartigen Tumoren“ und „ansteckenden Viren“ leiden. Wer nicht gründlich „geheilt“ werde, könne „die ganze Familie anstecken“. Das gelte auch für alte Menschen und für Bauern, selbst wenn so viele Familienmitglieder eingesperrt sind, dass niemand mehr da ist, um die Felder zu bestellen.
Während chinesische Politiker und Diplomaten die massenhaften, außergerichtlichen Festnahmen immer wieder als harmlose „Berufsbildungskampagne“ beschreiben, geht aus den nun veröffentlichten Dokumenten eindeutig hervor, dass es sich um Strafmaßnahmen handelt. Acht Mal kommen in einer Direktive der Stadt Turpan Worte wie „strafen“ und „Bestrafung“ vor.
Ein vermutlich erzwungenes Geständnis
Alle Ebenen und Branchen der Verwaltung – Stadt, Dorf, Schule und Polizei – werden angewiesen, Verdächtige sofort zu identifizieren und zu kontaktieren. Als besonders verdächtig werden Studenten eingestuft, die in den Ferien nach Hause kommen und oft erst dort erfahren, dass Familienangehörige interniert sind. „Sofort zu melden: aus anderen Teilen Chinas heimkehrende Studenten“, heißt es etwa in der Direktive. Studierende hätten oft „weitreichende soziale Kontakte“. Sobald sie über soziale Medien „inkorrekte Meinungen“ veröffentlichten, sei „die Wirkung weitverbreitet und schwierig auszumerzen“.
Die größte Überraschung des von der „New York Times“ veröffentlichten Materials enthalten zwei Berichte über einen Kader namens Wang Yongzhi, der sich der Partei widersetzte. Zunächst ließ er, wie angeordnet, mehr als 20000 Uiguren in seinem Distrikt internieren, doch bald erschienen ihm die Vorgaben seiner Vorgesetzten als „zu ehrgeizig und unrealistisch“. In Sorge, sein Distrikt könne wirtschaftlich zurückfallen, entließ er 7000 der Festgenommenen wieder.
Für diese Eigenmächtigkeit enthob ihn die Partei seines Amtes, bestrafte und ließ ihn eine Selbstbezichtigung schreiben, wonach er zu viel getrunken und Regeln gebrochen habe: „Ich habe selektiv gehandelt und meine eigenen Anpassungen vorgenommen, weil ich überzeugt war, dass die Festnahme von so vielen Menschen wissentlich Konflikte erzeugen und die Verbitterung vertiefen würde“, schrieb er in seinem vermutlich erzwungenen Geständnis. Im Untersuchungsbericht der Partei heißt es schlicht: „Er weigerte sich, alle festzunehmen, die festgenommen werden sollten.“
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