Sebastian Kurz ist längst aus dem Amt und trotzdem rüttelt der Fall das Land auch Monate später noch auf. Diesmal sind es geheime Nebenabsprachen über Postenverteilungen. Das hört sich schlecht an – könnte das politische System aber reformieren.

Die Causa Sebastian Kurz aus dem vergangenen Herbst war brisant – und das nicht nur für die Bewohner der Alpenrepublik. Auch in den Nachbarländern, allen voran Deutschland, staunte man über die Spitzfindigkeit des einst als Wunderknaben gepriesenen Jungpolitikers und seinen Kollegen. Publik gewordene Chatprotokolle zeigten auf, was sich wirklich hinter den geschniegelten Mauern des Regierungssitzes in Wien abspielte. Gekaufte Inserate, manipulierte Umfragen und ausgebootete Konkurrenten – der Fall ist hinreichend beleuchtet worden.

Gut zwei Monate nachdem Sebastian Kurz endgültig aus allen politischen Ämtern ausgeschieden ist, lässt der Fall das Land auch weiterhin nicht zur Ruhe kommen. So waren vor gut zwei Wochen weitere Dokumente publik geworden, die zeigen, wie die Österreichische Volkspartei (ÖVP) in den vergangenen Jahren ihre Posten besetzt hatte. Brisant sind die Papiere nicht nur wegen ihres Inhalts. Sie könnten nun auch eine Trendwende in der Politik bewirken.PAID Analyse zu Schwarz-Grün in Österreich 1155

„Sideletter“: „Sinnvolle, eingelebte Praxis“

Bei den Dokumenten handelt es sich um zwei geheime „Sideletter“ der Regierung unter Sebastian Kurz. Österreichs Ex-Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP) bezeichnete sie im Interview mit „Der Standard“ als „durchaus übliche Spielregeln“. Derartige Papiere gehören spätestens seit den 1960er Jahren zum politischen Geschäft. Zuvor wurden nicht einmal die Koalitionsvereinbarungen veröffentlicht, erklärt der Historiker Manfried Rauchenstein im Gespräch mit dem „Kurier“. „Das geschah erst 1963 zum ersten Mal“ – was diese Sideletter möglicherweise notwendig machte.

Konkret geht es um schriftlich festgehaltene Nebenvereinbarungen zum Koalitionsvertrag. Sideletter sind Zusatzpapiere, die aus Sicht der politischen Akteure nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Die jüngst öffentlich gewordenen Dokumente verdeutlichen noch einmal, wie akribisch die Regierung unter Sebastian Kurz, erst mit der FPÖ und später mit den Grünen, bei der Postenbesetzung vorging. Auch das eine österreichische Tradition – oder wie „Der Standard“ unter Berufung auf Regierungsvertreter und Ex-Politiker schreibt: eine „sinnvolle, eingelebte Praxis“.

Wer einer verantwortungsvollen oder hochgestellten staatlichen Arbeit nachgehen möchte, muss sich etwa durch politische Nähe bewähren. Mit dem richtigen Parteibuch war es noch bis in die 1970er Jahre einfach, als Arbeiter in der Verwaltung oder staatlichen Betrieben unterzukommen. Die Politik handelt sich in der Nachkriegszeit so den Begriff des „Postenschachers“ ein, der sich über Jahrzehnte in die Alltagssprache einbürgerte, zunächst aber hauptsächlich in der linken Publizistik genutzt wurde. In den 1980er Jahren sollte die Postenbesetzung transparenter gestaltet werden. Allerdings führte der Ansatz nur dazu, dass Spitzenfunktionen etwa in der öffentlichen Verwaltung zeitlich begrenzt wurden. Wer ein Interesse daran hatte, seine Stelle auch über die Frist hinaus zu behalten, beugte sich schnell den Wünschen der Politik.STERN PAID Sebastian Kurz Kommentar 20.10

Spielregelen zwischen den Koalitionspartnern

Die nun veröffentlichten Sideletter zeigen, dass sich an dem Postenschacher auch bis heute wenig geändert hat. Die Papiere enthalten vor allem geheime Absprachen über die Personalbesetzung im staatsnahen Berich. So wurde etwa festgehalten, welche der Regierungsparteien die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs und der Nationalbank bestimmt. Für eine Demokratie besonders brisant: In einer Beilage unter der von ÖVP und FPÖ gebildeten Regierung wurde festgelegt, wie Posten im öffentlich-rechtlichen Rundfunk besetzt werden sollen. Das schloss auch die Stelle des Chefredakteurs mit ein. Auch erste Kandidaten wurden namentlich genannt. Das soll nach „Spiegel“-Informationen beim jüngeren Sideletter von ÖVP und Grünen aber nicht mehr der Fall sein.

Ex-Vizekanzler Mitterlehner verteidigte die geheimen Absprachen im Interview. Sie dienten dazu, um „Klarheit und Sicherheit“ zu haben. „Dort, wo die Regierung eine Personalentscheidung treffen muss, braucht man einen Modus dazu. Hat man diesen nicht, ist Streit vorprogrammiert“, so Mitterlehner. Bemerkenswert an dem Sideletter von ÖVP und FPÖ sei vor allem „die Ausführlichkeit der Vereinbarungen“.

In Österreich ist tatsächlich nichts Unsägliches dabei, wenn ein Ministerium Eigentümervertreter in die Aufsichtsräte der Staatsbetriebe entsendet. Komplizierter wird es allerdings, wenn es um Stellen etwa beim Verfassungsgerichtshof (VfGH) geht. Die Richter müssen politisch unabhängig sein, gleichzeitig muss jemand entscheiden, wer am Gerichtshof tätig ist. In Demokratien fällt diese Aufgabe gewählten Vertretern zu. In Österreich sind das die Regierung, der National- und der Bundesrat. Das lässt sich leicht missbrauchen. Ein Verfassungsrechtler bezeichnete das System deshalb jüngst als „demokratiepolitische Sauerei“.

Künftig mehr Transparenz?

Die aktuelle Regierung unter Kanzler Karl Nehammer verkündete kürzlich, bei Koalitionen auf Nebenabsprachen zu verzichten. „Mit mir wird es in künftigen Regierungen keine geheimen Vereinbarungen außerhalb des Regierungsprogramms geben“, sagte der Regierungschef und designierte ÖVP-Vorsitzende der „Kronen Zeitung“. Er stehe zu den Absprachen über Postenbesetzungen, sofern es ein Vorschlagsrecht der Regierung gebe, aber das müsse öffentlich und transparent gemacht werden. „Es muss allen klar sein, dass geheime Absprachen das Vertrauen in die Politik beschädigen.“

Die Krux an dem Ganzen: Sideletter sind zwar ein offenes Geheimnis – aber trotzdem geheim. Ob die Regierung künftig wirklich darauf verzichtet, lässt sich in erster Linie nicht unbedingt nachweisen. Immerhin sind die Dokumente zumindest aus Sicht der Politik nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.

Quellen:„Der Standard“, „Die Presse“, „Der Kurier“, „Der Spiegel“, mit Material von DPA

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