Ein Gesetzesvorstoß der türkischen Regierung zum Kindesmissbrauch hat einen erbitterten Streit um die Kinderehe entfacht und den kulturellen Abgrund ausgeleuchtet, der zwischen den politischen Lagern in der Türkei klafft. Die Regierungspartei AKP reichte im Parlament eine Gesetzesänderung ein, mit der Kindesmissbrauch rückwirkend straffrei gestellt werden soll, wenn die sexuelle Handlung nicht erzwungen wurde und der Täter das Opfer heiratet.

Während Opposition, Frauenrechtler und Kinderschützer mit einem Aufschrei der Empörung reagierten, verteidigten Regierungspolitiker das Vorhaben als notwendige Rücksicht auf die soziale Realität im Land, in dem die Ehemänner von Tausenden minderjährigen Mädchen hinter Gittern säßen. Die Änderung wurde vom Parlament mit knapper Mehrheit in ein Gesetzespaket aufgenommen, das am Dienstag verabschiedet werden soll.

Ausgelöst wurde die Kontroverse durch eine Novellierung der Bestimmungen zum Kindesmissbrauch im Strafgesetzbuch, die im Sommer vom Verfassungsgericht für ungültig erklärt worden waren. Die Verfassungsrichter bemängelten, dass im Gesetz nicht ausreichend zwischen Jugendlichen und Kleinkindern unterschieden werde, wenn es um sexuellen Missbrauch geht. Die Regierung brachte deshalb jetzt eine Neuregelung ins Parlament, mit der die Strafen nach Altersgruppen stufenweise geregelt sind.

Kurz vor der Abstimmung schob die Regierungsfraktion ihre Ergänzung nach, wonach vor dem 16. November verhängte Strafen wegen Kindesmissbrauchs ausgesetzt werden sollen, wenn die sexuelle Handlung „ohne Zwang, Drohung, List oder Gewalt“ zustande kam und der Täter sein Opfer heiratet. Justizminister Bekir Bozdağ erklärte, die Regierung wolle damit die Interessen mehrerer Tausend junger Mädchen im Land wahren, die von ihren Familien in Unkenntnis der Gesetzeslage minderjährig verheiratet wurden und deren Ehemänner deshalb hinter Gittern sitzen.

Obwohl das heiratsfähige Alter in der Türkei bei 18 Jahren liegt, werden junge Mädchen insbesondere auf dem Land noch oft minderjährig in sogenannten Imam-Ehen verheiratet, die von einem Geistlichen getraut werden und keinen rechtlichen Bestand haben. Ist der Ehemann volljährig, macht er sich dadurch des Kindesmissbrauchs schuldig – ein Straftatbestand, der oft erst dann ans Licht kommt, wenn das Mädchen zur Entbindung eines Kindes in ein staatliches Krankenhaus eingeliefert wird.

Rund 3.000 Familien gebe es, in denen der Vater deshalb im Gefängnis sitze und die offiziell unverheiratete junge Mutter mit ihren Kindern allein gestellt sei, sagte Ministerpräsident Binali Yıldırım. Mit der einmaligen Amnestie sollten diese Familien aus der Not befreit werden, indem die Väter aus dem Gefängnis entlassen werden und die Frauen amtlich heiraten. „Das haben wir den Leuten im Wahlkampf versprochen“, sagte der Regierungschef.

Opposition spricht von Amnestie für Vergewaltiger

Die Opposition warf der Regierung vor, damit Kindesmissbrauch und die Vergewaltigung minderjähriger Mädchen zu decken. Mit dem Gesetzestext werde impliziert, dass ein 15-jähriges Mädchen sich aus freiem Willen einem Mann hingeben könne, sagte die Abgeordnete Süha Aldan von der republikanischen Oppositionspartei CHP – das sei der wahre Hintergrund der Initiative. Ein junges Mädchen könne in dieser Situation gar nicht frei von Zwang oder Täuschung entscheiden, sagte auch die CHP-Abgeordnete Nurhayat Kayışoğlu. Insofern laufe die Amnestie auf einen Freibrief zum Missbrauch minderjähriger Mädchen hinaus.

Mit einer Amnestie für Vergewaltiger habe die Initiative nichts zu tun, entgegnete die Regierung. Justizminister Bozdağ verwies darauf, dass es die AKP-Regierung gewesen war, die 2004 die Straffreiheit für Vergewaltiger abgeschafft hatte, die ihre Opfer heiraten – eine entsprechende Bestimmung war bis dahin im Strafgesetzbuch verankert gewesen. Keine Regierung habe mehr getan, um Kinderehen zu verhindern und das Heiratsalter in der Türkei anzuheben, betonte Bozdağ.

Unterminiert wurde diese Verteidigung allerdings von einem AKP-Politiker, der in einer Talkshow zur besten Sendezeit im Fernsehen für die Legalisierung der Kinderehe plädierte. Anders als in Europa werde ein Mädchen in der Türkei mit der Pubertät als erwachsen betrachtet, sagte Vahdettin İnce, der eine Absenkung des heiratsfähigen Alters forderte. Die „gesellschaftlichen Werten“ des Landes müssten sich auch im türkischen Gesetz niederschlagen, sagte İnce. In sozialen Medien lösten seine Äußerungen einen Proteststurm aus.

Read more on Source